XV.

„TABERNAKELRUHE IN DER SEELE“

 

Lange habe ich mich besonnen,

ob ich jetzt so etwas Schönes erörtern soll, wozu man Ruhe braucht, fast möchte ich sagen, „Tabernakelruhe in der Seele“.

Gott sei Dank, es gibt heils- und lernbegierige Seelen. Diese lade ich ein zu einer Lernstunde in Bethanien zu den Füßen des Meisters. Wie ehedem Maria, die Schwester des Lazarus, so wollen wir den geheimnisvollen Lehren des Heilands lauschen. Eine solche Maria, die freilich zufällig Martha heißt, soll uns Führerin sein. Sie soll uns erzählen, wie sie das in Bethanien Erlauschte auf unsere Zeit anwendet. Man beachte dabei die sich kundgebende wahrhaft königliche Art der feinen Gesinnung; die Schilderung soll möglichst den kindlichen, herzlichen Ton treffen.

Martha geht am Morgen in die Kirche. Sie findet alles hell erleuchtet, so feierlich. Sie denkt sich: „Oh, wie schön ist das, Heiland.“ Martha darf heute kommunizieren. Sie fühlt, wieviel Gnade bei der heiligen Kommunion in ihr Herz einströmt. Gleich kommt ihr der Gedanke: „Mein Heiland, ich danke Dir: Das ist eine große Aufmerksamkeit von Dir, daß Du mich wieder so unverdient begnadigst.“

Martha kommt nach Hause, die Mutter hat das Frühstück für sie hergerichtet.

Martha muß lebhaft über die Wohltaten Gottes nachsinnen: „Der liebe Heiland hat mir eine so gute Mutter gegeben. Das ist eine ständige große Aufmerksamkeit für mich. Ja, wirklich: Er liebt mich wie Seinen Augapfel. Ich hätte ja auch als ein Heidenkind geboren werden können, aber Er wußte, daß ich Ihn dann nicht so lieben könnte, nicht so lieben dürfte wie jetzt.“

Martha geht zur Handelsschule. Auf dem Wege sieht sie so herrliche Anlagen, so schöne Blumen; sie ist doch erfreut und betrachtet wie eine Tieferdenkende auch diese Gaben der Natur als besondere Geschenke Gottes. Andere gehen vorüber und sehen nichts. Die Gotteskinder aber bekommen nach und nach einen eigenen Blick und — leuchtende, strahlende Augen. — Mittags begegnet ihr eine Freundin und teilt ihr mit, daß sie schon bald unter die Marienkinder aufgenommen werden kann.

Martha hat schon gefürchtet, daß sie noch ein Jahr warten muß, jetzt teilt ihr die Freundin aber mit, daß sie schon beim nächsten Termin in vier Wochen dabei ist und Marienkind werden darf. Da jubelt es nun wieder im Herzen Marthas, und ein Leuchten geht über ihre Züge. Sie ist tief ergriffen. „Heiland“, sagt sie, „diesen Herzenswunsch hast Du mir erfüllt. Alles, was Du mir Liebes von den Augen ablesen kannst, tust Du mir an.“ Der Freundin gegenüber äußerte sie nur: „Elise, ich freue mich sehr.“ Zum Heiland aber, den sie tief im Herzen trägt, sagt sie: „Heiland, das war eine große, große Aufmerksamkeit von Dir. Ich will mich bemühen, Dir wieder mehr Aufmerksamkeit zu erweisen.“ Martha kommt nach Hause, ganz durchdrungen von all dem Lieben, was ihr der Heiland ständig antut und wodurch er ihr Herz von neuem anfeuert und aneifert zur Gegenliebe. Auf dem Weg hat sie wieder so viel Schönes gesehen, und das alles kommt ihr so vor, als hätte es der liebe Heiland vor sie hingestellt, als wolle er sie immer mit neuen Dingen erfreuen.

Der Vater sagt zu Martha: „Martha, du hast neulich ein gutes Zeugnis von der Schule mit nach Hause gebracht; jetzt erst denke ich daran, daß ich dir noch nichts dafür geschenkt habe. Ich will dir eine kleine Anerkennung geben. Ich weiß, du liebst sehr die Musik, deshalb darfst du übermorgen mit mir in ein Violinkonzert gehen. Ich weiß, du hörst gern edle Musik. Übermorgen spielt ein ausgezeichneter Künstler, und da darfst du hinein.“ Martha ist übervoll vor Freude. Sie hätte gar nicht darauf gerechnet, daß sie eigens belohnt wird für ihr gutes Zeugnis. Sie hat sich längst daran gewöhnt, nichts für sich zu beanspruchen, sondern anspruchslos zu sein, weil sie sich denkt: „Meine größte Freude ist nicht Musik und Konzert, sondern wenn ich dem Heiland recht viel Freude machen kann. Ich möchte gern mit ihm wetteifern und Ihn übertreffen, aber jedesmal sehe ich wieder, daß Er sich nicht übertreffen läßt.“ Nun hat ihr also der Vater diese Freude gemacht. Dankbar gibt sie dem Vater die Hand und meint: „Vater, ich freue mich so sehr, du bist zu gut gegen mich. Ich danke dir.“

Im Herzen aber denkt sie: „Nicht der Vater war es, sondern der Heiland, der mir wieder diese Aufmerksamkeit erwiesen hat.“ Den ganzen Tag ist Martha erfüllt von diesem Gedanken an die Aufmerksamkeit des Heilandes, und in ihrem Herzen wetteifern Liebe und Dank. Auch das kleinste übersieht sie nicht, weil sie Jesus tief im Herzen trägt und zu Ihm sagt: „Mein Geliebter ist mein und ich bin Sein.“

Tags darauf ist Martha Zeugin eines schweren Straßenbahnunglücks. Ein armes, kleines Mädchen wird schwer verletzt. Martha ist tief erschüttert. Sie sagt im Innern zum Heiland: „Wie gern würde ich mein Konzert opfern um dieses Mädchens willen.“ Und richtig — ein Mann, ein Arbeiter ist auch schwer verletzt worden — Martha denkt sich: „Wenn ich wüßte, daß mir der Heiland meine Bitte erfüllt, daß Er diesen Mann nicht ohne Sterbsakramente aus dem Leben scheiden läßt, lieber würde ich auf das Konzert verzichten.“

In diesem Gedanken kommt sie auch andern Tags mittags nach Hause. Der Vater nimmt die Zeitung zur Hand und liest Martha vor, daß das angesetzte Konzert wegen Erkrankung des Künstlers ausfällt. Martha sagt gar nichts. Der Vater meint, sie mache ein recht betrübtes Gesicht, doch im Gegenteil: Martha ist freudig erstaunt. Das hätte sie nicht erwartet, daß der Heiland ihr auch diesen Wunsch erfüllt hat. Sie kann gar nicht genug staunen über diese zarten Aufmerksamkeiten des Heilandes. Ja wirklich! Jeden Wunsch, den ihr der Heiland aus den Augen abliest, sucht Er ihr zu erfüllen. — Sie ist ganz sprachlos. —

Nachdem der Vater die Zeitung wieder zur Hand genommen hat, liest er jetzt der ganzen versammelten Familie etwas vor. Es ist eine überaus betrübende Nachricht. Er liest, daß vor einigen Tagen in einem Wald bei München ein furchtbares Verbrechen vorgekommen ist. Drei Menschen seien auf ganz grausame Weise umgebracht worden. Martha schmeckte das Essen nicht mehr. Nein, so Entsetzliches dem Heiland antun, der für uns immer nur Liebes und Gutes hat und uns ständig mit Wohltaten überhäuft! Sie kann sich gar nicht fassen: „Heiland“, ruft sie in ihrer Seele, „jetzt verstehe ich, warum Du so oft blutüberströmt vor meinem geistigen Auge dastehst, warum mich das Bild vom dornengekrönten und zerfleischten Jesus immer so ergreift.“ Kaum hat der Vater das vorgelesen, fügt er noch eine Notiz hinzu: „Eben wird gemeldet, daß in einer Kirche nachts eingebrochen und das Allerheiligste geraubt wurde. Die heiligen Gestalten lagen verunehrt am Boden.“ Martha kann sich gar nicht fassen. Ein tiefer, tiefer Schmerz geht durch ihre Seele. Sie sagt nichts und läßt sich gar nichts anmerken, aber ihr Herz ist tief verwundet. „Also das hat man dem Heiland auch noch angetan.“ Auf der Stelle wäre sie bereit, alle Marter auszustehen, um Jesus das zu sühnen. „Heiland“, sagt sie in ihrem Herzen, „gewiß haben diese armen Menschen nicht gewußt, was sie taten; denn sonst hätten sie dieses Furchtbare, Entsetzliche nicht angestellt. Heiland, darf ich Dir Deine Tränen abtrocknen? Heiland, darf ich Dir das Blut abwischen von Deinem Angesicht? Heiland, darf ich die Dornen herausziehen aus Deinem Haupt? Heiland, ich bin bereit, zu sühnen, wie und so gut ich kann.“

Martha muß während des ganzen Nachmittagsunterrichts an all das denken. Sie kann es immer noch nicht fassen, daß es solche entsetzlichen Verbrechen auf Erden gibt. Aber leider, es ist so.

Die Schule ist vorüber. Eben verläßt sie das Gebäude der Handelsschule. Sie geht mit ihrer Freundin. Da rennt eine andere Handelsschülerin ihr nach und packt sie beim Arm mit den Worten: „Eine von euch beiden hat mich schmählich hintergangen, hat mich verraten, hat mich angezeigt. Es kann niemand anders sein: du warst es. Ich sehe es dir an.“ Martha ist ganz verblüfft, sie möchte etwas sagen, aber sie kommt nicht zu Wort. Die andere redet sich in einen ganz leidenschaftlichen Zorn hinein, zerrt ihre vermeintliche Gegnerin heftig am Arm hin und her, überhäuft sie mit den schmählichsten und gröbsten Ausdrücken in Gegenwart anderer Mitschülerinnen. Martha kann sich gar nicht verteidigen, so schnell geht alles.

Noch ehe sie sich besinnen kann, hat sie einen heftigen Schlag ins Gesicht bekommen, und nun zieht die andere, weil ihre Rache befriedigt ist, triumphierend ab. Martha ist brennend rot im Gesicht, Tränen stürzen ihr aus den Augen. Sie weiß gar nicht, wie das alles gekommen war. Noch nie hat sie eine andere Mitschülerin verklagt, noch nie hat sie mit dieser Schülerin etwas zu tun gehabt und jetzt diese freche Behandlung. — So etwas war ihr noch nie vorgekommen. Sie verabschiedet sich rasch von der Freundin und geht nach Hause, in Gedanken an diese Schmach versunken.

Eben trocknet sie wieder die Tränen ab, da fällt ihr ein, daß sie ja alles dem Heiland zur Sühne schon angeboten hatte für die Verbrechen, von denen sie gehört. Ja, jetzt ist die Lösung gefunden. Ein Ahnen geht durch ihre Seele, ein Leuchten huscht über ihr Angesicht. Dieser Schlag, den sie unschuldig empfangen, war ja eine Sühne! Und in diesem Augenblick durchdrang sie der Gedanke: „Heiland, das war wieder eine Aufmerksamkeit von Dir. Du hast mir Gelegenheit gegeben, zu sühnen. Jetzt hab’ ich Dein Angesicht abwischen dürfen, das von den rohen Henkersknechten so zerschlagen war.“

Im Nu verschwindet die ganze Bitterkeit, die sie eben noch empfunden. Im stillen dankt sie für dieses Mißverständnis und freut sich, daß sie um des Heilands willen das ertragen durfte. „Heiland“, sagt sie immer, „das war eine große Aufmerksamkeit von Dir.“ Am nächsten Morgen kommt jene Schülerin zu Martha und entschuldigt sich. Sie fürchtet, diese könnte schließlich Anzeige machen. Aber Martha wehrt gütig ab und sagt: „Das war halt ein Mißverständnis. Ich wußte ja von der Sache gar nichts. Ich werde es auch weiter nicht verfolgen. Es tut mir nur leid, daß du dich so hast hinreißen lassen und so wenig beherrschen kannst.“ Im stillen denkt sie sich noch dazu: „Eigentlich bin ich dir sehr dankbar, daß du aus Mißverständnis mich geschlagen hast, denn nur so hab’ ich Sühne leisten dürfen für das Arge, was man dem Heiland angetan hat.“

Das Violinkonzert wurde also um zwei Monate verschoben. Als die zwei Monate vorüber waren und wieder der Tag für das Konzert festgesetzt war, da lag Martha krank zu Hause. Wie gerne hätte sie das Konzert besucht. Wie hätte sie sich gefreut, wenn sie ihre Lieblingsmusik gehört hätte! Wie hätte sie sich mit dem Heiland dabei vereinigt, aber jetzt ist sie krank und — jetzt kommt das Merkwürdige an der Sache —, daß sie jetzt krank ist und das Konzert nicht besuchen kann, betrachtet sie als eine noch größere Aufmerksamkeit des Heilandes, weil sie leiden darf. Beim Konzert hätte sie zwei Stunden lang dem Heiland eine besondere Liebe geschenkt, aber durch ihre Krankheit kann sie unaufhörlich stundenlang dem Heiland ihre Liebe beweisen, und das dünkt ihr schöner als das schönste Konzert. Zwei Tage lang hat sie große Schmerzen. Aber je größer die Schmerzen, desto freudiger war sie. Immer wieder sagt sie: „Heiland, warum hast Du mich so lieb, daß Du mir Deine Dornenkrone so sehr auf mein Haupt drückst? Warum verwundest Du mein Herz so sehr?“

Diese Krankheit war eine großartige Vermehrung ihrer Liebe zu Jesus. Die Blumen, die man ihr ans Krankenbett stellte, hatte sie so gern. Jede einzelne Blume war ihr eine Liebesbotschaft von Jesus. Nichts konnte ihr begegnen, mochte es Freud oder Leid, Trübsal oder Schmerz, Entbehrung oder Verdemütigung, Entäußerung oder Schmach sein, was sie nicht als eine liebe Aufmerksamkeit des Heilandes betrachtet hätte.

So kam es, daß Martha in wenigen Jahren schon eine kleine Auserwählte unserer Tage geworden ist. Da bewirkte ihr — zum großen Geheimnis gewordenes — Achtgeben auf die Aufmerksamkeiten des Heilandes.

 

Ich füge dem Gesagten

nicht viel hinzu. Wer in der Seele kindlich genug ist, diese Übung zu verstehen, entschieden genug, sie trotz aller scheinbaren Schwierigkeiten programmäßig durchzuführen großmütig genug, um alles — Leid und Freud — unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, der wird einen Riesenerfolg im geistlichen Leben verzeichnen können. Dessen Leben wird von jetzt an erst hell und klar und sonnig, und dessen Innenleben nimmt ganz andere, nie geahnte Formen an.

Von da an erst beginnt das „Kind-werden“, das der Heiland als Bedingung fürs Himmelreich fordert.

Von da an wird durch diese innere Gedankenverbindung das kleine Geheimnis über allen Durchschnitt hinausgehoben, bald zum großen Geheimnis, das dann wie Stahl und Eisen hält in allen Prüfungen, Bedrängnissen, Kreuzen und Leiden.