XVI.

HÄTTE MAN D—A—S GEWUSST!

 

Wer hält es nicht für eine große Zumutung,

von der „Kindlichkeit“ einer Seele so viel zu verlangen, dass man alles — alles, auch das Leid, die harten, heißen Stunden als eine Aufmerksamkeit des Heilands betrachten solle? Und doch wage ich diese Zumutung.

Ja, „wagen“, das ist das rechte Wort, wie mir scheint; denn es ist kein geringes Wagnis, einem Menschen, der sich zwar auch als Christ, sogar guter Christ ausweisen kann — einem Menschen, der soeben zornig vom Stuhl aufgesprungen ist, weil man ihm einen ärgerlichen Schabernack angetan — einem Mann, der von anderen in seiner Existenz bedroht ist und die Beweise einer Schufterei in den Händen hat — einer Frau, die sich in ihren heiligsten Gefühlen durch ihren Mann verletzt fühlt — einem Mädchen, das ihren Herzenswunsch zertreten sieht — einem Untergebenen, der sich von seinem Vorgesetzten unrecht behandelt und in seiner Laufbahn sogar geschädigt sieht, all diesen zuzumuten: eben das sei eine Aufmerksamkeit des Heilands.

Schon wollen einige erregt aufspringen und sich zum Wort melden: „Aber, Herr Pater! . . .“ — „Warten Sie noch mit Ihrer Anfrage und lassen Sie mich ausreden! Ich will Ihnen eine kurze, treffende Geschichte erzählen: Eines Tages kommt da ein Paket. Der Postbeamte hat eine ziemlich hohe Gebühr verlangt. Nun ja, in Erwartung des Kommenden greift man gern einmal tiefer in die Tasche. Versichert und eingeschrieben war’s auch noch. Also unfehlbar gut berechnet und nach menschlichem Ermessen unverlierbar.

Nun geht’s ans Auspacken. Das Entwirren der Schnüre, hält auf. Wieder ein Knoten! Es geht langsam. Schere her! Eine Reihe von Spagat durchschnitten. Bedächtig wird der Deckel aufgehoben von der mächtigen Kartonschachtel. Es kommt eine neue Schachtel zum Vorschein, sorgsam eingehüllt und verschnürt. Nun wird diese geöffnet. Fast wird man schon nervös. Endlich auch dieser Karton frei. Eine Lage Papier, eine Lage Holzwolle, noch eine Lage Holzmull, noch eine — schon möchte man ärgerlich werden — um Gottes willen, noch eine Lage Holzwolle, und’ schon schaut der Boden heraus. Rasch den Mull nochmal abgegriffen und durchzaust. Es will nichts zum Vorschein kommen! Eine gelinde Aufregung bemächtigt sich des Empfängers. Noch einmal alles überprüft. Wie lautet der Absender? Nicht leserlich! Man hat doch viel bezahlt, viel geopfert und nun? Wut und Zorn möchte einen befallen. Sollte da irgendeiner uns geprellt, zum Narren gehalten haben? — „... ja, zum Narren!“ grinst es aus dem leeren Boden der Kartonschachtel heraus. — — Man wirft den ganzen Plunder in die Ecke und befindet sich in gar keiner guten Laune. Wer hat da die Hand im Spiel? Wer, wer? — —

Nach acht Tagen räumt man den „Plunder“ weg. Man will ihn nicht mehr sehen. Mit einer verdrießlichen Miene verbrennt man langsam und fast grausam die Holzwolle, die so sehr enttäuscht hat. Die zwei Schachteln sind leer. Nun ja, für den Speicher gut genug. Nochmals umgedreht und von den letzten Holzspänen freigeklopft. Da! — Was ist das? Aus einer Kartondoppelspalte fällt ein Brief heraus — nicht größer als eine Visitenkarte. Also des Rätsels Lösung. Hastig den Umschlag aufgerissen:

„Mein lieber Freund! Ich wollte Dir eine Freude machen und sandte Dir inliegend eine hochwertige Dollar-Banknote, die wir in dieser wertlosen Hülle und unter dem Wust von Holzwolle am geborgensten wähnten, sicher vor Diebstahl. Hoffentlich wird dieser Brief beim Öffnen des Paketes entdeckt und nicht weggeworfen. Der Inhalt stellt ja ein Riesenvermögen dar.

Es grüßt Dich Dein             

lang verschollener Freund aus Amerika.“

Beschämt setzt man sich auf den nächsten Stuhl und liest — und liest. Wozu seit acht Tagen dieser unbändige Grimm, diese Laune, dieser Ärger — und jetzt? Im stillen leistet man Abbitte, hätte man d — a — s gewußt! Man wäre nicht so zornig gewesen, hätte nicht geschimpft, nicht gewütet.

Ja, ja, hätte man’s gewußt! Eben das wollte ich sagen: Hätte man eine Ahnung davon gehabt, hätte man den Sinn des unbegreiflichen, sinnlosen Paketes rechtzeitig erkannt, dann —.

So! Jetzt bitte zum Wort melden! Sie da drüben in der Ecke wollten vorhin aufspringen und sich zum Wort melden. Ich weiß, was Sie haben. Sie wollen sagen: „Pater, ich habe eine unheilbare Krankheit, war immer mehr auf der lebenslustigen Seite und eben dann, wenn die anderen Mädchen zum Tanz gingen, dann hat mir die Mutter diese Freude geraubt. Jetzt, wo ich frei bin, kann ich nicht mehr. Ich sehe die anderen sich freuen und die Krankheit vergällt mir das Leben. Pater, ich trage schwer, schwer —.“

Nicht wahr, da wollten Sie vorhin den Zwischenruf machen: „Und das soll eine Aufmerksamkeit des Heilands sein?“

Nun ja, ich verdenke Ihnen das nicht. Sie haben eben über den Sinn noch nicht nachgedacht. Ihr Leiden erschien Ihnen als Unsinn, vielleicht gar als Quälerei von Gott. Sehen Sie: Ihr Paket haben Sie noch nie ordentlich ausgepackt, sonst hätten Sie auf dem Boden der Kartonschachtel wohl ein Brieflein vom lieben Gott gefunden, in dem steht:

„Diese Krankheit war als Zulassung und Fügung auch eine liebe Aufmerksamkeit von Mir, weil ich dich dadurch ferngehalten habe vom Gifthauch der Sünde. Leide gern und du bist Mir liebenswert! Durch die Leiden der letzten zwei Monate hast du Mir mitgeholfen, zwei Sünder zu bekehren. Ist das nichts? Die Mutter, meinst du, hat dir alle Freude geraubt. War’s nicht wieder eine zarte Aufmerksamkeit von Mir? Denn du hättest damals sicher deine Unschuld verloren unwiederbringlich verloren. Und jetzt hast du sie noch. Ist das nichts?“

Ja, so steht’s im Brief vom lieben Gott. Und ich könnte Ihnen noch mehr vorlesen und weit mehr Punkte angeben. Aber wozu haben Sie denn die Möglichkeit der Betrachtung? Eben deswegen stand im zweiten Teil die Anleitung zur Betrachtung, damit man Zeit hat zum Auspacken, Zeit hat zum Briefsuchen, Zeit hat zum Lesen und Verstehen dieses geheimnisvollen göttlichen Schreibens. Man braucht nur überall diese Punkte zu betrachten, den göttlichen Sinn herauszufinden suchen und man entdeckt voll tiefer Freude eine großartige Fügung und Führung — eben ein Netz von allerlei zarten Aufmerksamkeiten des Herrn. Man bedarf daher zu den Betrachtungen oft gar keiner Bücher.

 

Nein, liebe Freunde!

nehmt euer Leben her und betrachtet es!

I. Leitgedanke: Ich will die Aufmerksamkeiten des Heilands in meinem Leben herausfinden oder den Brief zu finden suchen als Erklärung, inwiefern dies und jenes — was mir bisher als grausame Enttäuschung vorkam — auch eine Aufmerksamkeit des Heilands sei. Hauptgedanke: Welche Absichten hatte der Heiland, als Er mir das schickte oder jenes zuließ?

Heiland! Ich höre nicht auf zu bitten und zu betteln, bis Du mir das sagst und es mich erkennen läßt — mir die Augen öffnest.

II. Funke: — — —  Es kommt Licht in meine Seele. Leise, leise! Der Heilige Geist will dir Einsprechungen geben: Carissima anima! Nicht wahr, du hast es noch nicht innerlich verwunden, daß du jenen Platz verlassen mußtest. Du hast gemeint, es sei den gemeinen Intrigen jener dir gehässigen Person gelungen, dich wegzubringen. Du warst ihr deshalb immer schwer abgeneigt. Wie verfehlt! Meiner Aufmerksamkeit hast du es zu verdanken, daß du wegkamst; denn ich sah voraus, daß dir deine falschen Freunde dort mehr geschadet hätten. Ich hatte dich lieb und sorgte für Wechsel. Und wie hast du mir diesen Liebesdienst vergolten?

Flamme: „Heiland! Dieses Rätsel wird mir freilich zum erstenmal gelöst. Jener Wechsel, der mich so lange verbittert hat, war mir zum Heil. Ich hätte es an den anderen Aufmerksamkeiten erkennen können, daß Du mich liebst, aber in meiner Verblendung . . .!“

Feuer: Wie bin ich Dir dankbar für diese Erkenntnis! Kannst Du mich noch lieben, da ich so lange wie ein ungezogenes Kind war? Tiefe Beschämung erfüllt mich. O hätte ich doch schon früher nach Deinem Brief gesucht! Hätte ich doch geforscht, welche Absichten Du hattest! Nun hast Du mich froh und frei gemacht. Zum erstenmal liegt mein Lebensweg wieder klar und ungetrübt vor mir. „Wie dank ich’s Deiner Güte, was ich an Glück und jungen Freuden fand!“

III. Bewahren: Nicht bloß im Großen, sondern auch im Kleinen erzeigst Du mir Deine Aufmerksamkeiten, und da will ich denn heute darauf achten, will mich freuen an den kleinen, lieben Aufmerksamkeiten von Dir (man denke an Martha, die alles, was so kam, als kleine Aufmerksamkeit betrachtet), will still, aber freudig danken.

Bewähren: Und gerade in dem Punkt, der mir am meisten von meinem ganzen Tagewerk Schwierigkeiten bereitete, will ich eine Aufmerksamkeit von Dir erkennen.

Bewachen: Diesen Brief von Dir will ich nicht mehr aus dem Aug’ verlieren. Dann — ich weiß es schon — kann nichts mehr kommen, was mich aus dem Geleise bringt. Freud oder Leid, Angenehmes oder Widerwärtiges — ich weiß, wie ich es zu betrachten habe. Gott sei Dank! Nichts kann mir mehr mein Glück rauben.

 

Unvermutet sind wir ins Betrachten hineingekommen. Geschadet hat es nichts. Im Gegenteil! Von dieser neuen Erkenntnis aus können wir gar nicht genug betrachten. Hat ja die Post vom lieben Gott soviel Pakete ins Haus hereingeschneit — alle vollgepfropft „mit Holzwolle“. Wo wird da der Brief sein, der Schlüssel für die Lösung?

 

Liebe Freunde!

Nehmt es mir nicht übel, aber wegen Abfertigung dieser Pakete müssen Überstunden eingelegt werden, d. h. mehr denn je muß betrachtet werden! Die Zeit verlangt es gebieterisch, darunter verstehe ich nicht bloß eine formierte Betrachtung nach einem Schema F oder bloß zur gewohnten Betrachtungsstunde. Es gibt Leute, die das halten und doch äußerst rückständig bleiben. Nein, — haltet Betrachtungen auf euren Wegen und Stegen, Gängen und Besorgungen, — denkt die Gedanken Gottes nach!

Sucht den verborgenen Brief! Es ist das auch eine wertvolle Betrachtung! Warum hat das Gott geschickt — der Menschheit — mir? Was will Gott damit erzielen? Inwiefern ist’s eine Aufmerksamkeit? Freunde! Es sind das keine müßigen Gedankenspielereien, sondern weltbewegende Fragen.

Und von den Antworten darauf hängen unter Umständen Himmel und Hölle ab.“