Beitrag 06

Keine Schriftauslegung ohne Tradition

Der Lutherkritiker Laurentius von Brindisi hinterfragt die angebliche göttliche Berufung des großen Reformators. Besonders fragwürdig scheint der Vergleich mit dem Apostel Paulus. Weiter kritisiert er die Erfindung eines vermeintlich „reinen Evangeliums“, welches Luther gegen die Überlieferung der Kirche wendet. Dagegen erinnert der hl. Kirchenlehrer an den Primat der Tradition, wonach nur dort die Bibel recht ausgelegt wird, wo die Wahrheit der Lehre und des Glaubens überliefert sei. Hören wir aus der „Darstellung des Luthertums“ des hl. Kirchenlehrers Laurentius von Brindisi:

„Wir wollen auf die Berufung des Martin Luther schauen: Handelt es sich wirklich um eine göttliche Berufung mit der Aufgabe, ein neues Evangelium und ein neues Christentum zu begründen? Oder wie seine Anhänger sagen: die Synagoge Satans zur Kirche Christi zu bekehren? Er selbst behauptet von sich, dass er vor der Erleuchtung durch das Evangelium wie Saulus gewesen sei. Er sei wie Paulus vom Christenverfolger zum Prediger des Evangeliums berufen worden. Doch wie geeignet ist die Anwendung des Beispiels Pauli auf Luther?

Denn mag Paulus sich auch [anfangs] Christus gegenüber als blasphemischer Verfolger gezeigt haben, so hat er doch Gott nicht erzürnt durch Gehässigkeit oder Aufbegehren wider Ihn. Paulus wütete nicht gegen Gott in rasendem Geisteszustand, so wie Luther wütete mit verwirrtem Geist. Niemals bekannte Paulus von sich Frevel, Gotteslästerung und Hass gegen Gott, wie Luther. In Gesinnung und Geisteshaltung war daher Luther viel schlimmer als Saulus.

Saulus ging von der Synagoge Satans zur Kirche Christi über, die er vorher so sehr verfolgt hatte. Nun aber mögen doch, bitte, die Lutheraner erklären: Welche ist denn diese Kirche, die ein solcher neuer Saulus [namens] Luther vorher so sehr verfolgt hat? Und welche Kirche ist es, zu der er später überging? Paulus ging von der Synagoge zur Kirche Christi über. Luther aber floh als Apostat. Als Abtrünniger ererbter Frömmigkeit ging er von der Kirche zur Welt hinüber. Wie sollte er Christus außerhalb der Kirche finden? Gleich Kain ging er hinaus, umherschweifend und flüchtig vor dem Angesichte des Herrn (Gn 4,14).

Man kann also in keiner Weise das Beispiel Pauli auf Luther anwenden, es sei denn, man nähme an, er habe die zuvor verfolgte Kirche nachher in seinem [eigenen] Namen als neue Kirche gegründet. Das tat Luther [auch wirklich], aber nicht Paulus. Wir lesen nirgends etwas von einer Kirche oder Sekte, die nach Paulus „Paulianer“ benannt wäre, so wie nach dem Namen „Luther“ die Sekte der Lutheraner [genannt wird], gleichwie die Sekte der Arianer und die Seuchen ähnlicher Häretiker.

Man sagt [ferner], Luther habe sich [wieder] der ältesten, apostolischen Kirche angenähert, [der Urkirche,] wie sie gemäß dem vermeintlich „reinen Evangelium“ von Christus begründet sei. Welch haltlose Erfindung! Sagen doch dasselbe von ihrer „Kirche“ die Calvinisten; dasselbe zur Zeit des Augustinus die häretischen Donatisten.

Diesen Irrtum von der ursprünglich zusammengebrochenen und allein in Afrika durch Donatus wieder erneuerten Kirche hat der heilige Augustinus gründlich widerlegt. Besonders in seinem Buch Über die Einheit der Kirche, in dem er diejenigen als von der Kirche ausgeschlossen erklärt, welche sagen, die Kirche sei zugrunde gegangen und [erst] durch Donatus in Afrika – [und] jetzt durch Luther in Sachsen – wieder erneuert worden.

Andere behaupten, die Kirche sei nicht schlechthin zugrunde gegangen, sondern [nur] unkenntlich geworden – und durch Luther [wieder] ans Licht gebracht. Aber wo und wie hat sie sich so lange verborgen? Wo war das öffentliche Glaubensbekenntnis dieser verborgenen Kirche zu finden? Welche waren ihre Hirten, welche ihre Gläubigen durch so viele Jahrhunderte? Welche ihre Sakramente, welche ihre Lehre und Dogmen? Wie kann ohne all das die wahre Kirche existieren?

Dies also verlangen wir zuerst von den Lutheranern, besonders aber von Polykarp Leyser: Zeigt  uns die Kirche, die Luther, gleich Saulus, hart verfolgte, und in die er dann auf den Ruf und Befehl Christi hin aufgenommen wurde. Die Kirche war nämlich früher als Paulus. Und er wurde [auch] nicht berufen, dass er ihr erster Gründer sei, sondern dass er in den [schon bestehenden] Leib der Kirche Christi eingefügt werde.ii

Um aber den kranken und eigentlich lachhaften Irrtum der Neuchristen gänzlich zu widerlegen, will ich noch folgendes bemerken: Woran wollen sie denn die lutheranische „Kirche“ als eben jene erkennen, welche die Apostel durch die Predigt des Evangeliums und unter dem Anhauch des Heiligen Geistes begründeten? Die Heilige Schrift sagt [ja] darüber nirgends etwas; [die Bibel] tut keinerlei Erwähnung der „Kirche“ und des „Evangeliums“ [dieser Reformatoren]iii. Woher wollen Menschen, die [doch] ohne Bibel nichts glauben wollen, nun ohne [Hilfe der] Bibel wissen, dass die lutheranische Kirche die Apostolische sei?

Glänzend lehrte Tertullian in seinen „Einsprüchen gegen die Häretiker“, man solle sich mit den Häretikern gar nicht über die Heiligen Schriften einlassen, sondern darüber, wodurch die Glaubensregel überliefert seiiv, die die Christen erst zu Christen mache. Wo nämlich die Wahrheit der Lehrev und des christlichen Glaubens zutage träte, da sei [auch] die Wahrheit über die Heiligen Schriften, ihre Auslegungen und [überhaupt] aller christlichen Überlieferungen zu finden“.

(aus: Laurentius von Brindisi, Opera omnia, Vol. II HypotyposisLutheranismi, Pars I Hypotyposis Martini Lutheri, Patavii, ex officinatypographicaseminarii 1930, Sectio Tertia, Dissertatio Prima, I-IV, S. 62ff.)