SECHZEHNTE ROSE
Schönheiten des Ave Maria
Obgleich es nichts Erhabeneres gibt als die göttliche Majestät, nichts Erbärmlicheres als der Mensch, insofern er Sünder ist, so verschmäht trotzdem diese höchste Majestät unsere Huldigungen nicht, sondern wird geehrt, wenn wir ihr Lob singen. Und der Gruß des Engels ist einer der schönsten Lobgesänge, die wir dem Allerhöchsten darbringen können. Canticum novum cantabotibi: Ein neues Lied will ich dir singen! (Ps 143,9) Dieses neue Lied, von dem David vorausgesagt hat, man werde es bei der Ankunft des Messias singen, ist der Gruß des Erzengels.
Es gibt einen alten und einen neuen Lobgesang. Der alte ist jener, den die Israeliten zum Danke für die Schöpfung, die Erhaltung, die Befreiung aus ihrer Gefangenschaft, für den Durchgang durch das rote Meer, für das Manna und für alle übrigen Wohltaten des Himmels gesungen haben.
Das neue Lied hingegen ist jenes, das die Christen singen zum Danke für die Menschwerdung und für die Erlösung. Gleichwie diese Geheimnisse durch den Gruß des Engels verwirklicht wurden, so wiederholen wir denselben Gruß, um der allerheiligsten Dreifaltigkeit für diese unschätzbaren Wohltaten zu danken.
Wir loben Gott den Vater, weil er die Welt so sehr geliebt, daß er ihr seinen eingebornen Sohn als Erlöser hingegeben (Joh 3,16). Wir preisen den Sohn, weil er vom Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, Mensch geworden und uns erkauft hat. Wir verherrlichen den Heiligen Geist, weil er im Schoße der Allerseligsten Jungfrau den reinsten Leib gebildet hat, der das Opferlamm für unsere Sünden geworden ist. In diesem Geiste der Dankbarkeit sollen wir den Englischen Gruß beten, indem wir Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe und des Dankes für die Wohltat unseres Heils erwecket.
Obwohl sich das neue Lied unmittelbar an die Mutter Gottes richtet und ihr Lob enthält, ist es dennoch sehr glorreich für die heiligste Dreifaltigkeit, weil alle Ehre, die wir Maria erweisen, auf Gott als auf die Ursache aller ihrer Vollkommenheiten und Tugenden zurückstrahlt. Gott der Vater wird verherrlicht, indem wir das vollkommenste aller seiner Geschöpfe ehren. Der Sohn wird verherrlicht, weil wir seine reinste Mutter loben. Der Heilige Geist wird verherrlicht, indem wir die Gnadenschätze bewundern, mit denen er seine Braut ausgestattet hat.
Wie die heiligste Jungfrau durch ihren schönen Gesang, das Magnificat, auf Gott die Lobpreisungen bezog, die ihr die heilige Elisabeth wegen ihrer ausgezeichneten Würde als Mutter des Herrn dar brachte, so gibt sie sofort Gott das Lob zurück, das wir durch das Ave Maria ihr darbringen.
Nicht nur gereicht der Englische Gruß der heiligsten Dreifaltigkeit zur Verherrlichung, sondern er ist auch das vollkommenste Lob, das wir Maria spenden können.
Als die heilige Mechtildis (Aus dem Orden des hl. Benedikt, + 1294) einmal wissen wollte, auf welche Weise sie der Mutter Gottes die Zärtlichkeit ihrer Verehrung besser bezeigen könnte, fiel sie in Verzückung, und es erschien ihr die Allerseligste Jungfrau. Sie trug auf ihrer Brust den Englischen Gruß in goldenen Buchstaben und sprach zu ihr: "Wisse, meine Tochter, daß niemand mich mit einem angenehmeren Gruße ehren kann als mit jenem, den mir die heiligste Dreifaltigkeit darbringen ließ und durch den sie mich zur Würde der Gottesmutter erhoben hat.
Durch das Wort "Ave", das der umgekehrte Name "Eva" ist, erfuhr ich, daß Gott durch seine Allmacht mich vor der Sünde und vor allem Elend bewahrt hatte, dem das erste Weib unterworfen wurde.
Der Name "Maria", der bedeutet "Frau des Lichtes", versinnbildet, daß Gott mich wie einen leuchtenden Stern mit Weisheit und Licht erfüllt hat, um Himmel und Erde zu erleuchten.
Die Worte "Voll der Gnade" halten mir vor Augen, daß der Heilige Geist mich mit so vielen Gnaden überhäuft hat, daß ich davon überreichlich jenen mitteilen kann, die durch meine Vermittlung darum bitten.
Durch die Worte: "Der Herr ist mit Dir" erneuert man in mir die unaussprechliche Freude, die ich empfand, als das Ewige Wort in meinem Schoße Fleisch annahm.
Wenn man mir sagt: "Du bist gebenedeit unter den Weibern", so lobe ich die göttliche Barmherzigkeit, die mich bis zu dieser hohen Würde erhoben hat. Bei den Worten: "Gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus", freut sich der ganze Himmel mit mir, daß mein Sohn Jesus angebetet und verherrlicht wird, weil er die Menschen erlöst hat."