DREIUNDZWANZIGSTE ROSE

Der Rosenkranz als Gedächtnis des Lebens und Sterbens Jesu Christi

Jesus Christus, der göttliche Bräutigam unserer Seele, unser süßester Freund Jesus wünscht, daß wir uns seiner Wohltaten erinnern und sie über alles schätzen; er empfindet eine außerwesentliche (akzidentelle) Freude, gleichwie auch Maria und alle Heiligen des Himmels, wenn wir andächtig und mit Liebe über die heiligen Geheimnisse des Rosenkranzes betrachten, welche die ausgeprägtesten Wirkungen seiner Liebe zu uns sind und die reichsten Geschenke, die er uns machen kann, weil durch solche Geschenke die Himmelskönigin selbst und alle Heiligen sich der Glorie erfreuen.

Die selige Angela von Foligno bat einmal den göttlichen Heiland, sie zu lehren, durch welche Übung sie ihn am meisten ehre. Er erschien ihr ans Kreuz geheftet und sagte: "Meine Tochter, betrachte meine Wunden!" Sie vernahm von ihrem liebenswürdigsten Erlöser, daß ihm nichts angenehmer sei, als die Betrachtung seiner Leiden. Darauf enthüllte er ihr die Wunden seines Hauptes und mehrere Umstände seiner Martern und sprach zu ihr: "Alles das habe ich für dein Heil gelitten, was könntest du tun, das meiner Liebe zu dir gleich käme?"

Das heilige Meßopfer ehrt unendlich die allerheiligste Dreifaltigkeit, weil es das Leiden Jesu Christi darstellt und wir darin die Verdienste seines Gehorsams, seiner Leiden und seines Blutes aufopfern. Auch der ganze himmlische Hof erhält einen Zuwachs an außerwesentlicher Glorie und zwar aus demselben Grunde, sagen uns mehrere Gelehrte mit dem hl. Thomas, wie er sich über die Kommunion der Gläubigen freut, nämlich weil das heiligste Sakrament das Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu Christi ist und weil die Menschen durch dieses Gnadenmittel an den Früchten des Kreuzesopfers teilnehmen und in ihrem Heilswerke voranschreiten.

Nun aber ist der Rosenkranz, wenn er unter Betrachtung der heiligen Geheimnisse gebetet wird, ein Gott dargebrachtes Lobopfer für die Wohltat unserer Erlösung und ein frommes Andenken an die Leiden, den Tod und die Glorie Jesu Christi. Es ist also wahr, daß der Rosenkranz ein Zuwachs von außerwesentlicher Glorie und Freude ist für Jesus Christus, für Maria und für alle Heiligen, denn sie wünschen nichts sehnlicher zu unserem ewigen Glück, als uns mit einer Übung beschäftigt zu sehen, die für unseren Erlöser so glorreich und für uns so heilsam ist.

Das Evangelium versichert uns, daß ein Sünder, der sich bekehrt und Buße tut, allen Engeln Freude bereitet (vgl. Lk 15,7). Wenn es eine Freude für die Engel ist, daß ein Sünder seine Sünden verlasse und Buße tue, welche Freude, welcher Jubel wird es für den ganzen himmlischen Hof sein, welche Ehre für Jesus Christus selbst, zu sehen, wie wir auf Erden andächtig und mit Liebe seine Erniedrigungen, seine Qualen, seinen grausamen und schmählichen Tod betrachten? Gibt es etwas Wirksameres, uns zu rühren und zu aufrichtiger Buße zu führen?

Der Christ, der die Geheimnisse des Rosenkranzes nicht betrachtet, zeigt eine große Undankbarkeit gegen Jesus Christus und Geringschätzung gegen alles, was der göttliche Erlöser für das Heil der Welt gelitten hat. Sein Betragen scheint zu sagen, daß ihm das Leben Jesu Christi fremd ist, daß er sich wenig darum bemühe, kennenzulernen, was er getan und gelitten hat, um uns zu erlösen. Da ein solcher Christ Jesus Christus nicht gekannt oder vergessen hat, muß er sehr befürchten, daß ihn der göttliche Heiland am Tage des Gerichtes mit dem Vorwurfe von sich stoße: "Wahrlich, wahrlich sage ich dir, ich kenne dich nicht" (Mt 25,12).

Betrachten wir also im heiligen Rosenkranz das Leben und die Leiden des Erlösers, lernen wir ihn gut kennen und seine Wohltaten anerkennen, damit er uns am Tage des Gerichtes als seine Kinder und Freunde anerkenne.