VIERUNDZWANZIGSTE ROSE
Die Betrachtung der Geheimnisse des Rosenkranzes ist ein großes Mittel, zur Vollkommenheit zu gelangen
Die Heiligen nahmen das Leben Jesu Christi zum hauptsächlichsten Gegenstand ihres Studiums. Sie betrachteten seine Tugenden und Leiden und gelangten dadurch zur christlichen Vollkommenheit.
Der heilige Bernhard hat mit dieser Übung begonnen und sie immer fortgesetzt. "Vom Beginne meiner Bekehrung an, sagte er, wand ich mir ein Myrrhensträußchen aus den Schmerzen meines Erlösers. Ich legte dieses Sträußchen auf mein Herz, indem ich an die Geißeln, an die Dornen und an die Nägel seines Leidens dachte. Ich richtete die ganze Aufmerksamkeit meines Geistes darauf, täglich über diese Geheimnisse zu betrachten."
Das war die Übung der heiligen Märtyrer. Wir staunen, wie sie über die grausamsten Qualen triumphiert haben. Woher konnte diese wunderbare Standhaftigkeit der Märtyrer kommen, fragt der heilige Bernhard, wenn nicht von den Wunden Jesu Christi, über welche sie ihre häufigste Betrachtung anstellten? Wo war die Seele jener heldenmütigen Streiter, während ihr Blut floß und ihr Körper von den Schmerzen zermalmt war? Ihre Seele verweilte in den Wunden Jesu Christi, und diese Wunden machten sie unüberwindlich.
Die heiligste Mutter des Erlösers hat sich in ihrem ganzen Leben mit nichts anderem beschäftigt, als mit der Betrachtung der Tugenden und Leiden ihres Sohnes. Als sie bei seiner Geburt die Engel ihren Jubelgesang singen hörte, als sie die Hirten ihn in der Krippe anbeten sah, wurde ihr Geist von Bewunderung erfüllt, und sie betrachtete all diese wunderbaren Begebenheiten. Sie verglich die Herrlichkeiten des menschgewordenen Wortes mit seiner tiefen Erniedrigung; das Stroh und die Krippe mit dem Thron und dem Schoße seines Vaters; die Macht eines Gottes mit der Schwachheit eines Kindes; seine Weisheit mit seiner Einfalt.
Die Allerseligste Jungfrau sagte eines Tages zur heiligen Brigitta: "Wenn ich die Schönheit, Bescheidenheit und Weisheit meines Sohnes betrachtete, war meine Seele wonnetrunken, und wenn ich seine Hände und Füße anschaute, die einst von Nägeln durchbohrt werden sollten, vergoß ich einen Strom von Tränen, mein Herz brach vor Traurigkeit und Schmerz."
Nach der Himmelfahrt Jesu brachte Maria, die Gottesmutter, den Rest ihres Lebens damit zu, die Orte zu besuchen, welche der göttliche Erlöser durch seine Gegenwart und durch seine Leiden geheiligt hatte. Dort betrachtete sie das Übermaß seiner Liebe und die Größe seines Leidens.
Das war auch die fortwährende Übung der heiligen Maria Magdalena während der dreißig Jahre, die sie in der heiligen Grotte von Sainte Baume bei Marseille lebte.
Endlich sagt der heilige Hieronymus, das sei die Andacht der ersten Gläubigen gewesen. Von allen Ländern der Erde zogen sie in das Heilige Land, um durch den Anblick der Orte und Gegenstände, die der göttliche Heiland durch seine Geburt, seine Arbeiten, seine Leiden und seinen Tod geheiligt hatte, die Liebe und das Andenken an den Erlöser der Menschen tiefer in ihre Herzen einzuprägen.
Alle Christen haben nur einen Glauben, beten nur einen Gott an, erhoffen alle dieselbe Seligkeit im Himmel; sie kennen nur einen Mittler, nämlich Jesus Christus; alle müssen dieses göttliche Vorbild nachahmen und zu diesem Zwecke die Geheimnisse seines Lebens, seiner Tugenden und seiner Herrlichkeit betrachten.
Es ist ein Irrtum, sich einzubilden, die Betrachtung der Glaubenswahrheiten und der Geheimnisse des Lebens Jesu Christi sei nur Sache der Priester, der Ordensleute und jener, die sich vom Getriebe der Welt zurückgezogen haben. Wenn die Ordensleute und Geistlichen verpflichtet sind, die großen Geheimnisse unserer hl. Religion zu betrachten, um ihrem Berufe würdig zu entsprechen, sind die Weltleute mindestens ebensosehr dazu verpflichtet wegen der Gefahren, in denen sie sich täglich befinden, verlorenzugehen. Sie müssen sich also mit der häufigen Erinnerung an das Leben, die Tugenden und Leiden des Erlösers wappnen, die uns in den 15 Geheimnissen des Rosenkranzes vor Augen treten.