ZWEIUNDZWANZIGSTE ROSE

Die Betrachtung der heiligen Geheimnisse macht uns Jesu gleichförmig

Die Hauptsorge der christlichen Seele ist, nach der Vollkommenheit zu streben. Seid getreue Nachahmer Gottes, als seine vielgeliebten Kinder (Eph 5,1), sagt der große Apostel. Diese Verpflichtung ist im ewigen Ratschluß unserer Vorherbestimmung enthalten als das einzige Mittel, um zur ewigen Seligkeit zu gelangen.

Der heilige Gregor v. Nyssa sagt so zart, wir seien wie Maler. Unsere Seele ist die leere Leinwand, auf welcher wir den Pinsel führen müssen; die Tugenden sind die Farben, die ihren Glanz erhöhen sollen, und das Original, das wir kopieren müssen, ist Jesus Christus, das lebendige und vollkommene Abbild des Ewigen Vaters. Wie also ein Maler, um ein natürliches Gemälde zu erhalten, sein Modell vor sich hat und bei jedem Pinselstrich beobachtet, so muß auch der Christ das Leben und die Tugenden Jesu Christi vor Augen haben, um ja nichts zu sagen, zu denken oder zu tun, was ihm nicht gleichförmig wäre.

Um uns bei dem wichtigen Werk der Auserwählung zu helfen, hat die Allerseligste Jungfrau dem heiligen Dominikus befohlen, den Gläubigen, die den Rosenkranz beten, die heiligen Geheimnisse des Lebens Jesu Christi vor Augen zu stellen, nicht nur, damit sie ihn anbeten und verherrlichen, sondern hauptsächlich, damit sie ihr Leben und ihre Handlungen nach seinen Tugenden einrichten.

Wie aber die Kinder ihre Eltern nachahmen, indem sie dieselben sehen und mit ihnen verkehren; wie sie deren Sprache lernen, indem sie dieselben reden hören; wie ein Lehrling seine Kunst erlernt, indem er den Meister arbeiten sieht: so werden die treuen Mitglieder der Rosenkranzbruderschaft mit Hilfe der göttlichen Gnade und durch die Fürbitte Mariä dem göttlichen Lehrmeister ähnlich, indem sie die Tugenden Jesu Christi in den fünfzehn Geheimnissen seines Lebens aufmerksam und fromm betrachten.

Wenn Moses im Namen Gottes selber dem hebräischen Volke befahl, die göttlichen Wohltaten, womit es überhäuft worden war, nie zu vergessen, so kann mit viel größerem Recht der Sohn Gottes uns befehlen, die Geheimnisse seines Lebens, seines Leidens und seiner Herrlichkeit in unser Herz einzuprägen und sie unaufhörlich vor Augen zu haben, weil dies ebensoviele Wohltaten sind, mit denen er uns begünstigt und durch die er uns das Übermaß seiner Liebe für unser Seelenheil gezeigt hat. "O ihr alle, die ihr des Weges vorüberziehet", sagt er, "schauet und sehet, ob ein Schmerz gleich sei meinem Schmerze (Klagel. 1,12), den ich aus Liebe zu euch erdulde. Erinnert euch meiner Armut und meiner Erniedrigungen, denkt an den Essig und an die Galle, die ich in meinem Leiden für euch verkostet."

Diese und ähnliche Worte, die man anführen könnte, überzeugen uns zur Genüge von der Pflicht, uns nicht damit zufriedenzugeben, den Rosenkranz zu Ehren Jesu Christi und seiner heiligsten Mutter nur mündlich zu beten, sondern unter Betrachtung der heiligen Geheimnisse.