2. Kraft und Würde des Ave Maria

"Die heiligen Engel bringen im Himmel der Allerseligsten Jungfrau Maria dieses heilbringende Gebet, d.h. den Engelsgruß dar, nicht mit dem Munde, sondern im Geiste. Sie wissen nämlich, daß dadurch der Fall der Engel wiedergutgemacht, Gott Mensch geworden und die Welt erneuert worden ist." (Sei. Alanus).

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"Ich selbst habe, nachdem ich die Kraft dieser Verkündigung des Herrn an Maria erkannte, diesen Gruß andächtiger gebetet. Ja, ich, der ich noch in der Ordnung der menschlichen Natur lebe, habe Maria in der göttlichen Ordnung der Gnade und Glorie angefleht." (Alanus).

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Dasselbe bestätigt die Vision der heiligen Gertrud, wo man folgendes liest:

"Während in den Metten (an Mariä Verkündigung) das Invitatorium "Ave Maria" gesungen wurde, sah sie drei mächtig sprudelnde Bächlein, vom Vater, vom Sohne und vom Heiligen Geiste ausgehend, das Herz der jungfräulichen Mutter mit beseligender Gewalt durchdringen und daraus ebenso wieder nach ihrem Ursprünge zurückströmen; dadurch wurde der seligsten Jungfrau dies Geschenk zuteil, daß sie die Mächtigste nach dem Vater, die Weiseste nach dem Sohne und die Gütigste nach dem Heiligen Geiste ist. Auch erkannte Gertrud, daß, so oft der Engelsgruß von den Gläubigen auf Erden mit Andacht gebetet wird, dieselben Bächlein mit großer Gewalt überfließen und die seligste Jungfrau umströmen, um von der anderen Seite sich in ihr heiligstes Herz zu ergießen und von da mit Freude ihre Quelle wieder zu suchen. Aus diesem Hin- und Herströmen werden Freude und Wonne und ewiges Heil auf alle Engel und Heiligen und auch über diejenigen ergossen, welche auf Erden diesen Gruß beten; und hierdurch wird ihnen all das Gute erneuert, das sie je durch die heilbringende Menschwerdung des Sohnes erlangt haben."

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"Als eine gewisse Frau, Mitglied der Rosenkranzbruderschaft, einmal des Nachts auf ihrem Lager ruhte, sah sie die Allerseligste Jungfrau vor sich stehen, welche zu ihr sagte: "Meine Tochter, fürchte nicht deine milde Mutter, der du in Andacht jeden Tag dienst, sondern ich ermahne dich vielmehr, auszuharren. Und wisse, daß mir dieser Gruß eine so große Freude bereitet, daß kein Mensch dafür einen Ausdruck finden kann." (Wilh. Pepin im "Gold. Rosenkranz").

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Einmal sprach Maria zur heiligen Mechtildis: "Dieser Gruß wurde nie von einem Menschen übertroffen, noch wird mich jemand auf süßere Weise grüßen können als der, welcher mich mit jener Ehrfurcht grüßt, mit der Gott Vater mich durch dieses Wort gegrüßt hat."

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"Siehe, alle deine Ave sind auf diesen Mantel geschrieben. Wenn dieser Teil noch mit Ave ausgefüllt sein wird, so werde ich dich in das Reich meines geliebtesten Sohnes aufnehmen." Der selige Dionysius der Kartäuser erzählt, so habe Maria in einer Erscheinung zu einer ihm bekannten Person gesprochen.

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"Man muß die Mutter Gottes nicht nur mit dem Munde, sondern mit dem Herzen und in der Tat grüßen, damit sie nicht mit Recht antworten könnte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir."

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Folgendes sind die Gründe, auf welche gestützt die Kirche den Predigten und öffentlichen Vorträgen den Engelsgruß vorausschickt.

1. Das Beispiel des Engels. Die streitende Kirche ahmt, soweit sie kann, das Leben der Engel nach. Bevor der Engel Maria die frohe Botschaft brachte und ihr sagte: "Siehe, Du wirst empfangen und einen Sohn gebären", grüßte er sie ehrfurchtsvoll: Gegrüßt seist Du, voll der Gnade. Es ziemt sich also, daß die Kirche das Beispiel des Engels nachahmt und den Engelsgruß mit der Anrufung Mariä vorausschickt, ehe sie die frohe Botschaft, das Evangelium, verkündet.

2. Damit die Zuhörer aus dem Worte Gottes Frucht empfangen. Die Prediger vertreten die Stelle des Engels; damit aber die Zuhörer Christum durch den Glauben empfangen können, müssen sie von der jungfräulichen Mutter Maria, die ihn geboren, diese Gnade erlangen und so gleichsam Mutter des Wortes Gottes werden, denn ohne Maria kann Jesus Christus nicht in ihnen geboren werden.

3. Um den Beistand der Allerseligsten Jungfrau zu erlangen. Wie wirksam der Gruß des Engels war, geht aus dem Evangelium hervor.

4. Um die sehr großen Gefahren des Predigtamtes zu vermeiden, erleuchtet Maria, die Erleuchterin, die Prediger.

5. Damit die Zuhörer das Wort Gottes aufmerksamer anhören und nicht nur mit den Ohren des Leibes, sondern mit den Ohren des Geistes es erfassen, behalten, bewahren nach dem Beispiele der jungfräulichen Gottesgebärerin.

6. Damit der Teufel, der Feind des Menschengeschlechtes und der grimmige Bekämpfer der Verkündigung des Evangeliums ferngehalten werde, denn es steht geschrieben: "Hierauf kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden" (Lk 8,12).

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Nachdem der heilige Vater Dominikus in den Himmel eingegangen und die von ihm eingeführte Rosenkranzandacht in argen Verfall geraten und beinahe gänzlich ausgestorben war, begann eine schreckliche Pest verschiedene Gegenden zu verwüsten. Die ratlosen Menschen nahmen ihre Zuflucht zu einem heiligen Einsiedler, der in der Einöde ein sehr strenges Leben führte, und drangen in ihn, daß er sie im Gebete Gott empfehlen möge. Der fromme Mann flehte inbrünstig die Gottesmutter an, daß sie als Fürsprecherin der Sünder ihnen gnädigst zu Hilfe komme. Maria erschien ihm und sprach: "Sie haben mein Lob verlassen, und darum kam dieses Übel über sie. Sie sollen ihre frühere Andacht wieder aufnehmen und werden dann meinen Schutz erfahren. Ich werde die Pest von ihnen nehmen. Wenn sie mich mit dem Rosenkranze grüßen und in dieser Andacht verharren, werde ich für ihr Heil sorgen, denn an dieser Gebetsweise finde ich sehr großes Wohlgefallen." Die Leute kamen diesem Befehle nach und verfertigten sich Rosenkränze aus Zweiglein und Waldfrüchten und begannen mit großem Eifer, diese Gebetsweise zu üben.