4. Meine Mutter, deine Mutter.

Jesus:

Mein Bruder, nur dann kannst du meine kindliche Liebe zu Maria wirklich nachahmen, wenn du gleich mir ihr Kind wirst. Weißt du, bis zu welchem Grad du Kind Mariens bist?

Alle Gläubigen meinen es zu wissen, weil sie alle Maria ihre Mutter nennen. Die meisten jedoch haben eine recht unvollkommene Idee von Mariens Mutterschaft ihnen gegenüber.

Manche lieben Maria, wie wenn sie ihre Mutter wäre. Was aber würde dir wohl deine irdische Mutter antworten, wenn du ihr sagtest: „Ich liebe dich, wie wenn du meine Mutter wärest!?“

Viele meinen, Maria sei ihre Mutter einzig und allein kraft jener Worte, die ich vor meinem Tode sprach, als ich damals meine Mutter und meinen Lieblingsjünger am Fuß des Kreuzes stehen sah und zu Maria sagte: „Frau, siehe da, deinen Sohn!“ und zu Johannes: „Siehe da, deine Mutter!“ Diese meine Worte hätten Maria mit der Aufgabe einer Mutter betrauen und in ihr Gesinnungen einer Mutter schaffen können; wäre aber ihre Mutterschaft nur von diesen Worten abhängig gewesen, besäße sie bloß eine Adoptivmutterschaft. Suche also zu verstehen, daß Maria in der übernatürlichen Ordnung deine wahre Mutter ist, ähnlich wie jene, die dich gebar, deine wahre Mutter ist in der Ordnung der Natur.

2. Eine Mutter ist eine Frau, die das Leben gibt. Maria hat dir das Leben gegeben, das wertvollste Leben.

Sie gab es dir in Nazareth, auf Kalvaria und bei deiner Taufe.

Als sie mich in Nazareth empfing, hat sie zugleich auch dich empfangen.

Sie wußte, daß sie mit einem Ja oder Nein an Gabriel dir das Leben schenken oder dich im Tode lassen würde. Sie antwortete mit einem Ja, damit du das Leben habest. Sie war bereit, mir das Leben zu geben und dadurch auch dir. Indem sie meine Mutter wurde, wurde sie auch die deine. Von dieser Stunde an gehörtest du nach den Absichten Gottes und auch nach den ihrigen - weil sie Gottes Absichten erkannte und mit ganzer Seele zustimmte - meinem mystischen Leib an. Ich war das Haupt dieses Leibes, du ein Glied desselben. Und beide trug Maria in ihrem Mutterschoß (wenn auch auf verschiedene Weise), denn Haupt und Glieder sind voneinander nicht getrennt.

3. Auf dem Kalvarienberg gebar sie dich, indem sie mich für dich zum Opfer brachte.

Auf Golgotha erst wurde deine gänzliche Befreiung von Sünde und Tod bewirkt. Da vollendete ich „die Vernichtung dessen, der das Reich des Todes beherrscht“. Auf Golgotha verdiente ich dir durch meinen Tod die Gnade, mein Leben zu leben. Es war aber in Vereinigung mit ihr, Maria, daß ich dieses Werk vollbrachte. Als Opferlamm hat sie mich empfangen; im Hinblick auf meine Opferung hat sie mich ernährt, erzogen; in meiner Todesstunde brachte sie mich zu deinem Heil dem Vater dar und verzichtete zu deinen Gunsten auf alle ihre Mutterrechte über mich. Sie, die allzeit Jungfrau geblieben, die ihren Erstgeborenen in Freude geboren hatte, gebar dich und deine Brüder in den furchtbarsten Schmerzen.

4. In diesem Augenblick kam ihre Mutterschaft über dich zur Vollendung. Das ist der Grund, weshalb ich in diesem Augenblick diese ihre Mutterschaft laut verkünden wollte, indem ich Maria Johannes anvertraute und Johannes Maria anempfahl. Meine Worte bewirkten nicht diese Mutterschaft, sondern bezeugten, bekräftigten und vollendeten sie in der feierlichsten Stunde meines Lebens, in jener Stunde, in der meine Mutter die deine ward im wahrsten Sinne des Wortes, und in der sie am besten ihre mütterliche Sendung zu begreifen imstande war.

5. In der Taufe gab dir Maria das Leben selbst, nicht nur das Recht darauf, wie auf Kalvaria. Deine irdische Mutter brachte bloß ein totes Kind zur Welt. Die heiligmachende Gnade mußte dir in der Taufe eingegossen werden, und erst dann kamst du zum Leben.

Maria war es, die dir diese heiligmachende Gnade erwirkte, sie, ohne die nie eine Gnade gewährt wird. Als du aus einem Kinde des Zornes ein Kind Gottes wurdest, da war es Maria, die dich zum neuen Leben gebar.

6. Verstehst du jetzt, wie Maria dadurch, daß sie dich am Leben Gottes teilnehmen ließ, wahrhaft deine Mutter in der übernatürlichen Ordnung ist, gleichwie jene in der natürlichen Ordnung deine Mutter ist, die dir das leibliche Leben geschenkt? Doch nein! Maria ist es noch in viel höherem Grade!

Sie ist es viel mehr wegen der Art und Weise, in der sie dir das Leben gab.

Um dich zu gebären, opferte sie unvergleichlich mehr als deine irdische Mutter; sie opferte in bitterstem Leid das Leben, das ihr unendlich teurer war als ihr eigenes Leben.

Sie sorgt für dich dein ganzes Leben lang, während die irdischen Mütter dies nur so lange für ihre Kinder tun, bis sie erwachsen sind. Immer bleibst du Mariens Kindlein, das sie immer von neuem gebiert, bis Christus in dir gebildet ist. Wenn du aber das Unglück hättest, dein übernatürliches Leben zu verlieren, so könnte sie dir jedesmal dieses Leben wieder erlangen und müßte nicht, wie eine irdische Mutter, hilflos an der Leiche ihres Kindes weinen.

Sie liebt dich, so unvollkommen und undankbar du auch bist. Sie liebt dich mit einer Liebe, die an Innigkeit und Reinheit jede Mutterliebe übertrifft!

7. Maria ist deine Mutter in viel höherem Maß vor allem wegen der Natur jenes Lebens, das sie dir schenkte.

Nicht ein vergängliches war es, wie dein irdisches beschaffen ist, sondern ein ewiges, ein Leben ohne Ende; nicht ein mit Befürchtungen und Unvollkommenheit durchsetztes, sondern ein unendlich glückliches; nicht ein geschaffenes, menschliches Leben oder das der Engel, sondern - verstehe es wohl! - ein Leben, das Teilnahme am ungeschaffenen Leben Gottes, am Leben der Heiligen Dreifaltigkeit selbst ist. Darum wird dieses Leben kein Ende nehmen und unendlich glücklich sein, weil es dich teilnehmen läßt an der Ewigkeit und Seligkeit Gottes. Welche irdische Mutterschaft könnte den Vergleich mit einer solchen Mutterschaft bestehen?

Nun aber ist Maria deine wahre Mutter, sie ist eine so vollkommene Mutter, weil sie meine Mutter ist.

Du bist mein Bruder, mein teuerster Bruder, weil mein Vater dein Vater und meine Mutter die deine ist!

 

Die Seele:

Nein, Jesus, ich verstand nicht, inwieweit Maria meine Mutter ist. Wie nahe Du sie mir doch gebracht hast! Dank, lieber Jesus, für diese Gabe über alle Gaben!