GEISTLICHE UNTERWEISUNG

von Meister Eckhart

Meister Eckhart (auch Eckhart von Hochheim; *
um 1260 in Hochheim oder in Tambach;[1] † vor dem 30. April 1328 in Avignon)
 war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph.

 

1. Von der Hingabe

Aufrichtige und völlige Hingabe ist eine Tugend vor allen Tugenden. Kein Werk von Belang kann ohne sie zustande kommen. Und wie unbedeutend ein Geschäft auch ist und wenig im Ansehen, doch ist’s mit Hingabe getan förderlicher, als Messe lesen oder hören, als beten, kontemplieren oder was du gedenken magst – nimm, sag ich, das schnödeste Geschäft von der Welt: deine aufrichtige Hingabe verleiht ihm Adel und höhern Wert. Hingabe tut überall das Beste zur Sache. Hingabe geht nimmer fehl. Und bleibt auch nichts schuldig. sei unsere Leistung, welche sie wolle. Den des Guten bleibt sie nichts schuldig! Hingabe darf sich nicht sorgen, es entgeht ihr kein Gewinn: wo der Mensch aus Hingabe das Seine preisgibt, da auf der Stelle muss notgedrungen Gott für ihn eintreten. Denn so einer um sich nicht sorgt, um den muss Gott sorgen genau so wie für sich. Wenn ich mich meines Willens begeben habe in die Hand meines Oberen und für mich nicht sorge, das verpflichtet Gott, für mich zu sorgen. So aber ganz allgemein: wo ich für mich nichts will, da will statt meiner Gott. Nun überlege: was denn will er für mich, wo ich für mich nicht will? Unweigerlich doch eben das, was er für sich will, nicht weniger, nicht mehr, sondern bis ins einzelne dasselbe. Und tät er’s nicht: bei der Wahrheit, die Gott ist! so wäre Gott nicht gerecht, noch gut, was doch sein natürliches Wesen ist.

In aufrichtiger Hingabe wird nie erfunden werden ein „ich will’s so oder so, dies oder das“, sondern nur: vorbehaltloser Verzicht auf das Deine. Daher auch im besten Gebet, das der Mensch beten kann, darf es so etwas nicht geben: „gibt mir diese Tugend, diesen Weg“, nicht einmal: „ja, Herr, gib mir dich selber“ – oder „das ewige Leben“, sondern: „Herr, gib mir einzig, was du willst, und tu, Herr, was und wie du es willst, in aller Weise!“ Das übertrifft das erste wie der Himmel die Erde, und wenn man sein Gebet also verrichtet, so hat man wohl gebetet; ist man doch ganz und gar ausgegangen in Gott in wahrem Gehorsam. – Und wie echte Hingabe kein „ich will’s so“ kennt, so darf auch nimmer von ihr vernommen werden ein „ich will nicht“: ein „ich will nicht“ ist wahres Gift für jede Hingabe. Den getreuen Diener, sagt Sankt Augustinus, gelüstet nicht, dass man ihm sage oder gebe, was er gerne sähe; sein erstes, dringendstes Anliegen ist, zu hören, was Gotte allermeist gefällt.

Das kräftigste Gebet, allmächtig fast, alle Dinge zu erwerben, und ebenso unter allen das wertvollste Werk ist solches, das hervorgeht aus einem ledigen Gemüte. Je lediger dieses, desto kräftiger, wertvoller, näher, desto löblicher und vollkommener so Gebet wie Werk. Das ledige Gemüt hat Macht zu allen Dingen! – „Was ist ein lediges Gemüt?“ – Eines, das nirgendwomit beladen oder beworren ist, an nichts gebunden, es nirgend auf seinen Vorteil absieht in der Welt, sondern ganz und gar in den liebsten Willen Gottes versenkt ist, den eigenen aber aufgegeben hat! Mag was wir tun dann noch so scheinlos sein, es schöpft hierin von Gottes Kraft, von Gottes Allmächtigkeit.

So inbrünstig, so mit allen Fasern Leibes und der Seele muss man beten, dass man beide, Aug und Ohr, Herz und Mund und alle Sinne herzugekehrt hält; und nicht eher darf man aufhören, als bis man fühlt, dass man eins zu werden im begriff steht mit dem, den man sich gegenüber hat und zu dem man betet, mit Gott.