Die Umkehrung des Denkens
Die heutige Umkehrung des Denkens zeigt sich mitunter in einer besonders hinterlistigen Form: Die Dinge werden auf den Kopf gestellt, indem man das moralisch Gute als sozialen Konformismus hinstellt. Als Helden des Tages gelten diejenigen, die sich gegen die überlieferten Werte stellen. Dafür spricht man denen, die diese Werte achten, die Glaubwürdigkeit ab. Auf gleiche Weise haben die Pharisäer Christus vorgeworfen, Er sei des Teufels: Sie stellten das Gute als das Böse und das Böse als das Gute hin. Christus reagiert sehr heftig darauf, Er gerät in heiligen Zorn. Er verurteilt diese Haltung als die Sünde, die nicht vergeben wird, die Sünde wider den Heiligen Geist. Man darf dieses Wort nicht so verstehen, als ob diese Sünde niemals verziehen werden könnte. Jede Sünde, die man bereut, wird verziehen. Diese Sünde aber ist auf besondere Weise unverzeihlich. Sie ist die Sünde der Verkehrung, die Pervertierung. Über nichts empört sich Christus so wie über diese Sünde. Über denjenigen, der die Kinder falsch beeinflusst, sagte Er, „dem wäre besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist“. Gerade für diese Umkehrung der Werte, diese Art, das Böse als echt und das Gute als verdächtig hinzustellen, sind junge Menschen äußerst empfänglich.
Ich gebe dafür ein Beispiel. Man stellt oft die Gewissheit so dar, als wäre sie der Ausdruck eines verdächtigen Bedürfnisses nach Sicherheit, und man preist den Zweifel als das Kriterium der glaubwürdigen Existenz. Es stimmt aber nicht, dass die radikale In-Frage-Stellung an sich schon der Ausdruck der Glaubwürdigkeit des Verstandes ist: im Gegenteil, sie ist eine Form seiner Verkehrung. Die Wissenschaft stellt niemals alles in Frage. In Frage stellt sie frühere Hypothesen, um sie durch solche Hypothesen zu ersetzen, die den Tatsachen eher gerecht werden. Die Tatsachen selbst stellt sie nicht in Frage. Eine astronomische These wird in Frage gestellt, aber nicht die Gestirne. Die Theologie geht genau gleich vor. Sie strebt nach Annäherungswerten, die den Glaubenstatsachen immer genauer entsprechen. Und insofern bedeutet sie eine In-Frage-Stellung. Aber die Tatsachen des Glaubens stellt sie nie in Frage (...).
Es gibt noch eine dritte Form der Feigheit bei den Christen: nämlich die Angst vor dem Urteil der andern. Man möchte nicht den Eindruck erwecken, man sei nicht auf der Höhe der Zeit, und man hat nicht den Mut, das auszusprechen, was man im Innersten des Herzens denkt. Weil diese Zeitung oder jene Zeitschrift einen Film rühmt, findet man nicht gleich den Mut, zu sagen, dass dieser Film, menschlich gesehen, abstoßend ist und uns kein höheres Erlebnis vermittelt. Es gibt eine Feigheit der christlichen Kritiker, die mehr oder weniger aus Rücksichtnahme besteht.
Jean Kardinal Daniélou
(aus: Rebellion und Kontemplation, Zürich 1969)