Die Waagschalen

 

Was meine Großmutter uns aus der Bibel erzählte, das lebte sie uns im täglichen Leben vor. Sie war still, sonnig, immer freundlich und war eine treue Beterin. Ihr ganzes Leben war ein einziges Lieben und Ertragen von unsagbaren Nöten. Sie lebte an der Seite eines Mannes, der gerade das Gegenteil war: Hart, undankbar, ich-süchtig, ein Flucher, der nie zufrieden war. Hatte er seinen „schlimmen" Tag, so mussten wir eilends das Haus verlassen.

Schon unter der Tür klärte sie uns liebend auf und meinte: „Kinderchen, geht schnell, der Nordwind weht! Betet für den Großvater, er geht sonst verloren!" Oft verstanden wir das Großmütterli nicht mehr und sagten: „Wenn er so ist, dann hat er es auch nicht anders verdient!"

Als ich einmal zu ihr sagte: „Großmutter, gib doch dein Beten für den Großvater auf, es hat doch keinen Sinn, er wird ja immer noch schlimmer zu dir", da nahm sie mich an die Hand und führte mich in die Küche. Dort stellte sie eine Küchenwaage auf den Tisch und gab mir folgende Erklärung: „Diese Küchenwaage hat zwei Waagschalen. Nun stell dir einmal vor, Gott habe eine solche Waage für uns bereit. Hier wird alles, was wir tun, gewogen. Und nun denke dir, in der einen Waagschale sitzt dein schwer gebundener, hartherziger Großvater. Er hat mit seinem steinernen Herzen ein ganz beachtliches Gewicht. In der anderen Schale aber liegen die schwachen Gebete deiner Großmutter und die von euch Kindern. Vergleichst du so ein Gebet mit dem Gewicht eines Kalenderzettels, so ist dies, im Vergleich zu dem schweren Großvater, gar nichts! Nimmst du aber einen Jahreskalender mit 365 Zettelchen auf die Hand, dann ist es schon ein wenig schwerer. Und nun denke dir 50 ganze Kalender! Die sind schon gehörig schwer! So lange bete ich jetzt für den Großvater. Ich bin überzeugt, es kann nicht mehr viel fehlen, bis unsere Gebete mehr wiegen als Großvater, und sie werden ihn zum Himmel emporziehen. Wäre es nicht schade, wenn wir jetzt müde würden in unserem Beten? Wenn du täglich treu mitbetest, wird Gott uns erhören."

Und so betete ich noch sieben Jahre mit der Großmutter um die Errettung des Großvaters. Nachdem sie 57 Jahre im Gebet für ihren armen Mann durchgehalten hatte, nahm der Herr Jesus sie zu sich. Sie starb, ohne die Freude der Bekehrung des Großvaters erlebt zu haben.

Erst am Sarge der Großmutter brach der hartherzige Großvater zusammen und übergab sein Leben dem Heiland mit unbeschreiblichen Reuetränen. Gerade ich, die vor sieben Jahren der Großmutter noch den Rat gab, nicht mehr zu beten, durfte mit dem 83 jährigen Greis niederknien und seine Umkehr erleben. Der einst so gefürchtete Tyrann wurde zu einem sanften, liebenden treu betenden Großvater, der jeden seiner Besucher unter Tränen ermahnte, sein Leben dem Herrn zu geben. Das Gewicht der Gebetswaagschalen hatte also den alten Großvater doch noch nach oben gezogen. Und Großmutter darf nun im Himmel dafür danken

CH. Spurgeo

 

Gebete werden nach dem Gewicht und nicht nach der Länge gemessen.