Erklärung des inneren Gebetes

Aus: Hl. Teresa von Avila, Weg der Vollkommenheit

Ihr müsst wissen, Töchter, dass es noch kein Zeichen für inneres Gebet ist, wenn man den Mund schließt. Wenn ich mir beim Sprechen der Worte klar bewusst bin, dass ich mit Gott spreche und meine Aufmerksamkeit mehr auf Ihn richte als auf die Worte selbst, so bete ich innerlich und mündlich zugleich. Behauptet man aber, dass ihr mit Gott sprecht, wenn ihr beim Vaterunser an die Welt denkt, dann will ich lieber schweigen! Wollt ihr jedoch mit Gott sprechen, wie es sich für einen so großen Herrn geziemt, müsst ihr wohl bedenken, zu wem ihr redet und wer ihr seid, damit ihr wenigstens die rechte Umgangsform einhaltet. Denn wie könnt ihr den König mit „Hoheit“ anreden oder im Umgang mit einem Großen die geziemenden Formen beachten, wenn ihr weder seinen noch euren Stand kennt? Denn dem müssen ja die Umgangsformen entsprechen. Das alles müsst auch ihr kennen; sonst nimmt man euch nicht ernst und schickt euch unverrichteter Dinge wieder weg. Aber wie geht man mit Dir um, mein Herr? Wie begegnet man Dir, mein Gebieter? Wie ist das zu ertragen? Mein Gott, Du bist doch König in Ewigkeit, Dein Reich ist kein Lehen!

Wenn wir im Credo sprechen: „Seiner Herrschaft wird kein Ende sein“, so empfinde ich dabei fast immer eine ganz besondere Freude. Ich lobe Dich, Herr, und preise Dich in Ewigkeit, denn Deine Herrschaft wird ewig währen. Lass darum nie zu, Herr, dass man sich damit begnügt, nur mit dem Mund zu Dir zu reden. …

… Wer könnte es wohl als schlecht empfinden, wenn man sich zu Beginn des Stundengebetes oder des Rosenkranzes erst darauf besinnt, mit wem man nun spricht und wer man selbst ist, um zu wissen, wie man Ihm begegnen muss? Ich sage euch, Schwestern: Wenn ihr alles Nötige tut, um diese beiden Punkte in aller Tiefe zu erfassen, habt ihr schon vor Beginn des mündlichen Gebetes lange Zeit in innerem Gebet verbracht. Ja, mit einem Fürsten dürfen wir auch nicht so leichthin ein Gespräch beginnen wie mit einem Bauern oder einem Armen, wie wir selbst es sind; denn uns gegenüber ist jede Redeweise gut.

Die Demut dieses Königs ist allerdings so groß, dass Er mich, obwohl ich in meiner Unwissenheit nicht in der rechten Weise mit Ihm zu reden verstehe, dennoch anhört und mich nicht daran hindert, mich Ihm zu nahen, und Seine Wachen mich nicht wegjagen. Denn die Engel, die Ihn umgeben, kennen genau die Gesinnung ihres Königs und wissen, dass Ihm die Einfalt eines demütigen kleinen Hirten, der, wie der König weiß, gern mehr sagen würde, wenn er nur könnte, besser gefällt als die geschliffensten Redensarten der größten Gelehrten, denen es an Demut fehlt. Wir dürfen uns doch deshalb, weil Er gut ist, nicht ungebührlich benehmen! Um Ihm wenigstens unsere Dankbarkeit dafür zu beweisen, dass Er den üblen Geruch unserer Gegenwart erträgt, wenn Er jemanden wie uns in Seiner Nähe duldet, wäre es angebracht, uns um die Erkenntnis Seiner Reinheit und Seines Wesens zu bemühen. Man erkennt Ihn allerdings schon gleich, wenn man sich Ihm nähert, wie es ja auch bei den Herren dieser Welt der Fall ist: Werden uns der Name ihres Vaters, ihre Einkünfte und ihre Titel genannt, so ist damit schon alles gesagt; denn um jemand Ehre zu erweisen, achtet man im irdischen Bereich nicht auf die Person, so ehrenvoll sie auch sein mag, sondern auf den Reichtum. …

… O unser Herrscher, Du höchste Gewalt, höchste Güte, die Weisheit selbst! Du ohne Anfang und ohne Ende, grenzenlos in Deinen Werken: Sie sind unendlich, man kann sie nicht fassen! Du unendlich tiefes Meer von Wundern! Du Schönheit, die alle Schönheit in sich begreift! Du, die Kraft selbst! O mein Gott! Ich weiß, all unser Wissen ist nichts. Aber wie wünschte ich die ganze Beredsamkeit und Weisheit aller Sterblichen zusammen zu besitzen, um — soweit man das hier auf Erden kann — nur eines der vielen Dinge erklären zu können, durch die wir den ein wenig erkennen, der unser Herr und unser Gut ist!

Ja, wenn ihr vor Ihn hintretet, so bedenkt und begreift, mit wem ihr nun sprechen wollt! Erwägt und erkennt, vor wem ihr steht! Auch wenn wir tausendmal leben würden, wir könnten nie genug begreifen, wie der Herr es verdient, behandelt zu werden — Er, vor dem die Engel erzittern! Alles lenkt Er, alles vermag Er, Sein Wille ist Tat. Es ist also wohlbegründet, Töchter, wenn wir danach trachten, uns an der Erhabenheit unseres Bräutigams zu erfreuen und zu erkennen, wem wir angetraut sind und was für ein Leben wir deshalb führen müssen. O mein Gott! Wenn hier auf Erden jemand heiraten will, so lernt er zuerst den anderen kennen und weiß, was er ist und was er besitzt. Wenn man also solche Gedanken Verlobten nicht nimmt, warum sollten dann wir, die wir bereits verlobt sind, den Bräutigam vor der Hochzeit, ehe Er uns in Sein Haus einführt, nicht kennen lernen dürfen? Warum dürften wir nicht wissen, wer dieser Bräutigam und wer Sein Vater ist, in welches Land Er mich führen will und welche Güter Er mir verspricht, welches Seine Wesensart ist, wie ich Ihn am glücklichsten machen und womit Ihn erfreuen kann? Warum sollte es mir verwehrt sein, herauszubringen, wie ich meine Wesensart der Seinen gleichförmig machen kann? Will eine Frau eine gute Ehe führen, so gibt man ihr gerade diesen Rat, selbst wenn ihr Gatte von sehr niedrigem Stand ist. Dir aber, mein Bräutigam, soll man in allem weniger Beachtung schenken als den Menschen? Wenn die Welt das nicht billigt, soll sie Dir doch wenigstens Deine Bräute lassen, die mit Dir leben möchten! Sie führen in Wahrheit ein glückliches Leben! Wenn ein Bräutigam so eifersüchtig ist, dass seine Braut mit niemand Umgang haben darf, so wäre es eine schöne Sache, wenn sie nicht darauf bedacht wäre, ihm diesen Gefallen zu erweisen! Hat sie doch allen Grund, auf seinen Wunsch einzugehen und keinen anderen Umgang mehr zu suchen, da sie an ihm alles hat, was sie sich wünschen kann!

Diese Wahrheiten zu begreifen ist inneres Gebet, meine Töchter. Wollt ihr solche Gedanken mit dem mündlichen Gebet verbinden, so ist dies ganz recht. Aber denkt mir ja nicht an andere Dinge, während ihr mit Gott redet! Denn das wäre ein Zeichen dafür, dass ihr das innere Gebet nicht verstanden habt. Ich glaube, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Gebe Gott, dass wir es auch in die Tat umsetzen! Amen.