Flucht vor dem Grauen
Eine erschütternde Begebenheit am Ende des Zweiten Weltkrieges, erzählt von Emil Gebauer
„Maria hilf, heilige Mutter Gottes, rette mich für mein Kind!" — Ein kaum drei Monate altes Mädchen an die Brust gedrückt, keuchte die junge Frau diesen Notschrei hervor und floh weiter. Mit erschreckten Augen hetzte sie durch den Hochwald, ein halbes Dutzend Russen und tschechische Partisanen hinter sich. Mehr tot als lebendig zwängte sie sich durch das Gestrüpp des Unterholzes und sank erschöpft zu Boden. Das Kind legte sie an die Brust, um dessen Weinen zu stillen, und drückte die Hand auf ihren Mund, um das Keuchen zu dämpfen. Schon waren die Verfolger heran. Sie hörte ihr lautes Sprechen. Doch sie eilten weiter. Sie hielten es für ausgeschlossen, dass die Flüchtige in dieses Dickicht hätte eindringen können.
Sie stöhnte. So nahe schon am Ziel, und noch einmal musste sie auf eine Horde dieser Menschen stoßen, welche wie zum Tier wurden, wenn sie eine Frau sahen. Keine Stunde mehr bis zur Grenze — und nun wieder nichts! Sie musste warten bis zur Dunkelheit. Das Kind ächzte. Schmerz und Erschöpfung drohten der Frau die Besinnung zu rauben, als das Grauen der letzten Tage vor ihrem Geiste lebendig wurde. Die Amerikaner waren aus Bergreichenstein abgezogen, und Russen mit tschechischen Partisanen waren ihnen gefolgt. Und mit ihnen war auch über ihr Bergstädtchen die Hölle gekommen. Auch in ihr Heim, das Arzthaus des Städtchens, waren sie eingedrungen: drei Russen und ein Tscheche. Ein Russe war auf sie losgestürzt; der Gatte wollte sie schützen und war, von zwei Schüssen getroffen, tot zusammengebrochen. Da war sie ohnmächtig über ihn niedergefallen. Als sie Stunden später erwachte, hatte ihr Kind geschrieen. Da hatte sie es an die Brust genommen und sich in wahnsinnigem Schmerz zu dem toten Gatten gekauert. Die Wohnung war ausgeplündert; ein wüstes Chaos zeugte davon. Dann hatte sie Schritte gehört. Sie eilte zum Fenster und sah neuerdings Russen zur Haustür schleichen. Der Gedanke an ihr Kind überfiel sie. Sie stürzte ins Schlafzimmer, sprang mit dem Kind durchs Fenster in den Garten und war von dort in eine Nebengasse gelangt, von wo aus sie flüchten konnte. Auf ihrem Weg hatte der Anblick der auf den Straßen liegenden Leichen ihre Eile beflügelt. Fort, nur fort aus diesem Inferno über die Grenze nach Bayern! Aber als der neue Tag anbrach, fand sie sich todmüde vor Kaltenbach. Sie war die ganze Nacht irre gelaufen!
Von der Stadt her hörte sie bereits wieder Schießen und Schreien und wilden Aufruhr, die entfesselte Hölle! Da bog sie nach rechts in den dichten Wald. Und dann war sie zwei Tage und Nächte auf der Flucht durch den Böhmerwald geirrt zur Grenze. Alle paar Stunden war sie auf streifende Gruppen der Russen und Tschechen gestoßen, hatte sich in das Dickicht verkrochen, getrieben vom Grauen, von der Angst. Und nun, da die Grenze endlich so nahe, waren diese da. Als sie aus ihrer Halbohnmacht erwachte, war es dunkel. Sie taumelte aus dem Dickicht ins Freie. Kaum hundert Schritte entfernt, schimmerte die vom Mondlicht überflutete Grenzlichtung durch die Bäume. Das Kind wimmerte leise. Von links hörte sie verworrene Stimmen. Neue Angst überflutete sie lähmend. Aber sie riss sich zusammen. Sie musste zu Menschen; ihr Kind war am Verhungern. Vorsichtig ging sie an den Waldrand. Sie spähte nach allen Seiten: nichts! Da sammelte sie ihr letztes Quentchen Kraft und raste den flachen Abhang hinab zur kaum fünfzig Schritte entfernten Grenze, dem Bauernhof zu, den sie sah. „Stoy!" „Steh!"
Wie ein Blitzschlag traf sie dieser Ruf. Ein Schuss krachte. Es folgte ein Knattern von Gewehrfeuer. Kugeln umpfiffen sie, und ein Dutzend Gestalten stürmten auf sie zu. Laut keuchend - die Brust drohte ihr zu zerspringen - hetzte sie in wahnsinnigen Sätzen der Grenze zu. Schon war einer ihr so nahe, dass er die Hand nach ihr ausstreckte... "Maria hilf!", schrie sie, „hilf, hilf!"
Da gellte hinter ihr ein Todesschrei. Ihr nächster Verfolger stürzte, von einer ihr zugedachten Kugel getroffen...
Das Feuer verstummte, die Verfolger blieben zurück. Fast besinnungslos taumelte sie über die Grenze, dem Hofe zu. Keuchend, sich an der Klinke festhaltend, pochte sie an die Tür. Die Bäuerin öffnete. Fast fiel die Gehetzte ihr in die Arme. Aus dem Wohnzimmer trat der Bauer. „Was ist..., was willst denn Du hier?" Verkniffen sah er sie an. „Milch! Einen Tropfen Milch für mein Kind!" Sie bettelte: „Bitte, bitte!" - „Haben keine!" war die Antwort. „Um der Gottesmutter willen, nur einen Tropfen!" flehte sie. „Nur ein Tröpfchen fürs Kind; es stirbt vor Hunger! Zwei Tage bin ich gelaufen vor Mördern und Frauenschändern und habe keinen Bissen genossen... einen Tropfen nur meinem Kinde!" - „So, so! Zwei Tage und zwei Nächte gelaufen? Hast wohl mächtig was ausgefressen?" Und zur Türe weisend: „Fort! Euch kennt man!" — „Nicht, nicht!", stammelte sie erschrocken. „Einen Tropfen nur, nur einen Tropfen für mein Kind!" Mit schreckhaft geweiteten Augen hob sie die gefalteten Hände bittend empor.
„Raus, mein Haus ist kein Heim für euch! Euch kennt man!" Er stieß sie leicht an der Schulter zur Tür. Sie taumelte, stürzte über die Schwelle und blieb ohnmächtig liegen. Mit dem Fuß rollte er sie völlig hinaus; das Kind entfiel ihrem Arm und wimmerte leise. Der Bauer schloss die Haustür und ging mit seiner Frau in die Stube. „Wo käme man hin, wenn die da drüben sehen, dass wir sie nehmen, die über die Grenze herüberkommen!"
Etwa dreißig Schritte vom Grenzhof entfernt lag zu gleicher Zeit die Kriegerwitwe Burgl Rott vor dem Muttergottesbild über ihrem Bett auf den Knien und betete voll Inbrunst um Hilfe in ihrer Not. Ihr vor zwei Jahren in Russland gefallener Mann hatte ihr ein Büblein, das Häuschen, sieben Tagwerk Acker und eine Kuh hinterlassen und eine auf den Besitz eingetragene Hypothek, für die jährlich 380 Mark Zinsen und Abzahlung zu leisten waren. Diesen Betrag brachte ihr bisher jedes Jahr die Kuh durch den Buttergroschen und den Erlös für das geworfene Kalb. Den Lebensunterhalt für sich und das Kind bestritt sie aus dem Ertrag ihres Feldes, das sie mit Hilfe der Kuh bearbeitete, und aus dem Verkauf von Eiern ihrer zwanzig Hühner. Eine Ziege gab zusätzlich Milch für den Haushalt. Nun hatte die Kuh vor vier Wochen gekalbt und war seither krank. Die letzten zwei Tage hatte sie keinen Halm mehr angerührt.
Da lag die Burgl jetzt auf den Knien vor dem Bild Unserer Lieben Frau und rief sie um Hilfe an. Wenn nicht ein Wunder geschah, war ihre Kuh morgen tot; sie konnte die Jahresrate nicht zahlen; man würde ihr das Feld oder das Häuschen oder beides pfänden, und sie müsste mit ihrem Söhnchen betteln gehen. Verzweifelt sank ihr Haupt in die Polster des Bettes. Not und Sorge und Tränen hatten sie so müde gemacht, dass sie überm Beten einschlummerte. Da war ihr wie im Helltraum, als sähe sie die Gottesmutter aus dem Rahmen des Bildes sich neigen und milde lächelnd ihr über den Scheitel streichen.
„Sorge Dich nicht, alles wird gut", sagte die Himmelskönigin. „Doch geh zum Hof an der Grenze. Dort findest Du höchste Not. Handle in meinem Namen!" -Sie schreckte empor... Das waren doch Schüsse und fernes Geschrei?!
Sie sah das Bild Unserer Lieben Frau an der Wand und dachte an den Traum. Die Straße war leer, der Lärm und die Schüsse verstummt. Ihr Kind schlief. Sie trat aus dem Haus. Vor dem Grenzhof hörte sie Kinderwimmern. So fand sie die Unglücklichen. Rasch nahm sie das kleine Bündel in den Arm, hob die Halbbewusstlose empor und führte sie in ihre Hütte. Dort richtete sie dem Kindchen die Saugflasche und stellte vor die Frau einen Topf Ziegenmilch und Schwarzbrot. Dann sah sie ergriffen zu, wie ihre beiden Schützlinge die lang entbehrte Nahrung heißhungrig verzehrten. Nun legte sie die Fremde und deren Kind in ihr eigenes Bett und richtete sich auf dem alten Sofa ein Lager. Voll Bangen ging sie dann noch in den Stall, um nach dem kranken Tier zu sehen. Aber die Kuh stand vor der Krippe und fraß eifrig an dem dort liegenden Heu. Da hob die Frau voll Freude schluchzend die Hände: „Heilige Jungfrau Maria, ich danke dir!" Am nächsten Morgen berichtete die junge Frau das grauenhafte Geschehen jenseits der Grenze und ihr eigenes furchtbares Erleben. Entsetzt hörte die Burgl zu. Dann nahm sie die Hände der Unglücklichen: „Gräm dich nicht zu sehr um die Zukunft! Du bleibst mit deinem Kind bei mir, solange es Dir gefällt. Wenn ich auch nur armselig lebe, für dich und dein Mädchen wird es schon langen!"
Kurz vor Mittag hörte man an der Grenze fremdsprachiges Geschrei. Schüsse krachten. „Die Russen?!" - Die Burgl sah ihren Schützling fragend an. Diese nickte mit wachsbleichem Gesicht. Sie konnten in ihrer Todesangst nur beten. Bald hörten sie schwere Schritte; ein halbes Dutzend Russen näherten sich von der Straße dem kleinen Hof. Zitternd fielen die beiden Frauen vor dem Bilde über dem Bett in die Knie: „Wenn Maria nicht hilft, dann...!" Die Russen waren am Hofe angelangt, da zuckte der Anführer zurück und starrte wie gebannt auf die Haustür. Wie abwehrend hob er die Hände. Die Frau stieß einen Schrei aus. Sie hatte ihn erkannt: „Er, er hat meinen Mann ermordet." Zitternd und ohne jede Hoffnung blickten die beiden Frauen durch die Gardinen in den Hof. Da breitete der Anführer die Arme nach hinten aus, die Nachfolgenden blieben stehen. Wie verzaubert starrten sie auf die Haustür. Das Staunen in ihrem Gesicht wandelte sich, wich einer Verlegenheit, ging in Furcht über. Und dann gingen sie - erst langsam, dann immer schneller - rückwärts, die Augen immer auf die Haustür gerichtet. Plötzlich wandten sie sich um und rannten, als hätte ein starker Gegner sie überrascht, aus dem Hof, der Grenze zu und schrien: „Pani Maruschka!" - „Frau Maria!" Nur der Anführer blieb zurück. Er schien wie von einer Vision besiegt, die ihm den Eintritt verwehrte. Dann sank er auf die Knie, beugte sich tief, bis sein Gesicht den Boden berührte. So lag er minutenlang und stammelte slawische Worte. Dann öffnete er seine Sacktasche, entnahm ihr ein Kästchen und legte es vor sich auf den Boden. Nun stand er auf, hob die Hände, beugte sich nochmals tief, bekreuzigte sich und schritt langsam, gesenkten Hauptes aus dem Hof, seinen Genossen nach.
Fassungslos fielen sich die beiden Frauen in die Arme. Was da draußen geschehen war, wussten sie nicht. Nur das wussten sie, dass die Gottesmutter es war, die sie gerettet hatte. Voll heißen Dankes stieg ihr „Ave Maria" zum Himmel empor. Dann traten sie auf den Hof. In der Schatulle erkannte die Arztgattin ihr von den Russen geraubtes Eigentum, ihren Schmuck und ihre Ersparnisse. Zu ihrem Schrecken aber sahen sie den Grenzbauernhof lichterloh in Flammen zusammenstürzen; die Rinder und die Schweine aber trieb man jenseits der Grenze gegen Osten.
Quelle: Altöttinger Liebfrauenbote Nr. 8/1952