„Gemach!...“ von Edith Stein

Von Natur aus ist die Seele mannigfach erfüllt: so sehr, dass eines immer das andere verdrängt, und in ständiger Bewegung, oft in Sturm und Aufruhr. Wenn wir morgens erwachen, wollen sich schon die Pflichten und Sorgen des Tages um uns drängen (falls sie nicht schon die Nachtruhe vertrieben haben).... Da heißt es, die Zügel in die Hand nehmen und sagen: Gemach! Von alledem darf jetzt gar nichts an mich heran. Meine erste Morgenstunde gehört dem Herrn....

Jede muss sich selbst kennen oder kennen lernen, um zu wissen, wo und wie sie Ruhe finden kann. ... Und wenn keinerlei äußere Ruhe zu erreichen ist, wenn man keinen Raum hat, in den man sich zurückziehen kann, wenn unabweisliche Pflichten eine stille Stunde verbieten, dann wenigstens innerlich für einen Augenblick sich gegen alles andere abschließen und zum Herrn flüchten. Er ist ja da und kann uns in einem einzigen Augenblick geben, was wir brauchen. ... Und wenn die Nacht kommt und der Rückblick zeigt, dass alles Stückwerk war und vieles ungetan geblieben ist, was man vorhatte, dann alles nehmen, wie es ist, es in Gottes Hände legen und Ihm überlassen. So wird man in Ihm ruhen können, wirklich ruhen und den neuen Tag wie ein neues Leben beginnen.

Das ist nur eine kleine Andeutung, wie der Tag zu gestalten wäre, um für Gottes Gnade Raum zu schaffen.... Es wäre weiter zu zeigen, wie der Sonntag ein großes Tor sein müsste, durch das himmlisches Leben in den Alltag und Kraft für die Arbeit der ganzen Woche einziehen könnte ...

Es wird eine wesentliche Aufgabe jeder einzelnen sein zu überlegen, wie sie nach ihrer Veranlagung und ihren jeweiligen Lebensverhältnissen ihren Tages- und Jahresplan ge­stalten muss, um dem Herrn die Wege zu bereiten. ... Aber auch die seelische Situation ist bei den verschiedenen Menschen und bei den einzelnen zu verschiedenen Zeiten verschieden. Von den Mitteln, die geeignet sind, die Verbindung mit dem Ewigen herzustellen, wach zu halten oder auch neu zu beleben ..., sind nicht alle für jeden und zu allen Zeiten gleich fruchtbar. ... Es ist wichtig, das jeweils Wirksamste herauszufinden und sich zu Nutze zu machen ...

aus: Wege zur inneren Stille, in:

DIE FRAU, ESGA Bd. 13, 43-45.