„Jesus betete einmal an einem Ort...“
aus dem Jesus-Buch von Benedikt XVI.
Die Bergpredigt entwirft ... ein umfassendes Bild vom rechten Menschsein. Sie will uns zeigen, wie das geht: ein Mensch zu sein. Ihre grundlegenden Einsichten könnte man in der Aussage zusammenfassen: Der Mensch ist nur von Gott her zu verstehen, und nur wenn er in der Beziehung zu Gott lebt, wird sein Leben recht. Gott aber ist nicht ein ferner Unbekannter. Er zeigt uns in Jesus Sein Gesicht; in Seinem Tun und in Seinem Willen lernen wir die Gedanken Gottes und Gottes Willen selber kennen.
Wenn Menschsein wesentlich Beziehung zu Gott bedeutet, so ist klar, dass dazu das Reden mit Gott und das Hören auf Gott gehört. Deswegen gehört zur Bergpredigt auch eine Lehre vom Gebet; der Herr sagt uns, wie wir beten sollen.
Bei Matthäus geht dem Herrengebet eine kurze Katechese über das Gebet voraus, die uns vor allem vor den Fehlformen des Betens warnen will. Gebet darf nicht Schaustellung vor den Menschen sein; es verlangt die Diskretion, die einer Beziehung der Liebe wesentlich ist. Gott redet jeden Einzelnen mit seinem Namen an, den sonst niemand kennt, sagt uns die Schrift (Offb 2,17). Gottes Liebe zu jedem Einzelnen ist ganz persönlich und trägt dieses Geheimnis der Einmaligkeit in sich, die nicht vor den Menschen ausgebreitet werden kann.
Diese wesentliche Diskretion des Betens schließt das gemeinsame Beten nicht aus: Das Vaterunser selbst ist ein Wir-Gebet, und nur im Mitsein mit dem Wir der Kinder Gottes können wir überhaupt die Grenze dieser Welt überschreiten und zu Gott hinaufreichen. Aber dieses Wir weckt doch das Innerste meiner Person auf; im Beten müssen sich dieses ganz Persönliche und das Gemeinschaftliche immer durchdringen, wie wir bei der Auslegung des Vaterunser näher sehen werden. Wie es im Verhältnis von Mann und Frau das ganz Persönliche gibt, das den Schutzraum der Diskretion braucht, und zugleich beider Verhältnis in Ehe und Familie auch vom Wesen her öffentliche Verantwortung einschließt, so auch in der Gottesbeziehung: Das Wir der betenden Gemeinschaft und das Persönlichste des nur Gott Mitteilbaren durchdringen sich.
Die andere Fehlform des Betens, vor der uns der Herr warnt, ist das Geplapper, der Wortschwall, in dem der Geist erstickt. Wir alle kennen die Gefahr, dass wir gewohnte Formeln hersagen und dabei der Geist ganz woanders ist. Am aufmerksamsten sind wir, wenn wir Gott aus innerster Not um etwas bitten oder ihm aus freudigem Herzen für erfahrenes Gutes danken. Das Wichtigste aber ist - über solche Augenblickssituationen hinaus -, dass die Beziehung zu Gott auf dem Grund unserer Seele anwesend ist. Damit das geschieht, muss diese Beziehung immer neu wachgerufen werden und müssen die Dinge des Alltags immer wieder auf sie zurück bezogen werden. Wir werden umso besser beten, je mehr in der Tiefe unserer Seele die Ausrichtung auf Gott da ist. Je mehr sie der tragende Grund unserer ganzen Existenz wird, desto mehr werden wir Menschen des Friedens sein. Desto mehr können wir den Schmerz tragen, desto mehr die anderen verstehen und uns ihnen öffnen. Diese unser ganzes Bewusstsein durchprägende Orientierung, das stille Anwesendsein Gottes auf dem Grund unseres Denkens, Sinnens und Seins, nennen wir das „immerwährende Gebet“. Sie ist letztlich auch das, was wir mit Gottesliebe meinen, die zugleich die innerste Bedingung und Triebkraft der Nächstenliebe ist. (...)
Während Matthäus auf das Vaterunser mit einer kleinen Katechese über das Gebet im Allgemeinen hinführt, finden wir es bei Lukas in einem anderen Zusammenhang - auf dem Weg Jesu nach Jerusalem. Lukas führt das Herrengebet mit der folgenden Bemerkung ein: „Jesus betete einmal an einem Ort, und als Er das Gebet beendet hatte, sagte einer Seiner Jünger zu Ihm: Herr, lehre uns beten ...“ (11,1).
Der Kontext ist also die Begegnung mit dem Beten Jesu, das in den Jüngern den Wunsch wachruft, von ihm beten zu lernen. Das ist sehr bezeichnend für Lukas, der dem Beten Jesu einen ganz besonderen Platz in seinem Evangelium eingeräumt hat. Jesu Wirken als Ganzes steigt aus Seinem Beten auf, ist von ihm getragen. So erscheinen wesentliche Ereignisse Seines Weges, in denen allmählich Sein Geheimnis sich enthüllt, als Gebetsereignisse. Das Petrusbekenntnis zu Jesus als dem Heiligen Gottes steht im Zusammenhang der Begegnung mit dem betenden Jesus (Lk 9,19ff); die Verklärung Jesu ist ein Gebetsereignis (9,28f).
So ist es bedeutsam, wenn Lukas das Vaterunser in den Zusammenhang von Jesu eigenem Beten stellt. Er beteiligt uns damit an Seinem eigenen Beten, Er führt uns hinein in den inneren Dialog der dreifaltigen Liebe, zieht sozusagen unsere menschlichen Nöte hinauf ans Herz Gottes. Das bedeutet aber auch, dass die Worte des Vaterunser Wegweisungen ins innere Beten sind, Grundorientierungen unseres Seins darstellen, uns nach dem Bild des Sohnes gestalten wollen.