Unser ewiges Heil hängt vom Beten ab
Von hl. Alfons Maria von Liguori
Das Gebet ist zur Seligkeit nicht bloß nützlich, sondern notwendig; daher legt es uns Gott, der uns alle selig haben will, als Gebot auf: Petite et dabitur vobis: „Bittet, so wird euch gegeben werden” (Mt 7, 7). Es ist ein vom Konzil zu Konstanz verworfener Irrtum Wyclifs, zu behaupten, das Gebet sei für uns nur ein Rat und nicht ein Gebot. Oportet, man muss (es heißt nicht: prodest, es nützt, oder decet, es ziemt sich, sondern) oportet semper orare, man muss allezeit beten (Lk 18,1). Daher sagen die Gottesgelehrten mit Recht, von einer schweren Sünde könne nicht frei sein, wer es versäumt, wenigstens einmal des Monats und sooft er von einer starken Versuchung befallen wird, sich Gott anzuempfehlen.
Der Grund dieser Notwendigkeit, sich oft Gott zu empfehlen, liegt in unserer Unfähigkeit, aus eigener Kraft ein gutes Werk zu verrichten und einen guten Gedanken zu fassen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun” (Joh 15, 5); „Nicht als wären wir vermögend, von uns selbst etwas zu denken, als aus uns selbst” (2 Kor 3, 5). Darum sagte der heilige Philipp Neri, er verzweifle an sich selber. Andererseits will zwar Gott nach der Lehre des heiligen Augustinus seine Gnaden uns mitteilen, gibt sie aber nur dem, der darum bittet: Deus dare vult, sed non dat, nisi petenti (In ps. 102); insbesondere wird nach der Erklärung dieses heiligen Lehrers die Gnade der Beharrlichkeit nur denen, die darum bitten, gegeben.
Weil ferner der Teufel unablässig umhergeht, uns zu verschlingen, so müssen auch wir notwendig uns unablässig mit dem Gebet verteidigen: Necessaria est homini jugis oratio: „Es ist dem Menschen ein unablässiges Gebet notwendig”, sagt der heilige Thomas (III q. 39.art. 5); und vor ihm sagte Jesus Christus: „Man muss allezeit beten und nicht nachlassen” (Lk 18, 2). Wie könnten wir sonst den beständigen Versuchungen der Welt und des Teufels widerstehen? Auch ist es ein von der Kirche verworfener Irrtum des Jansenius, zu behaupten, die Beobachtung einiger Gebote sei uns unmöglich, auch fehle manchmal die Gnade, welche die Beobachtung ermöglicht. Gott ist getreu, schreibt der heilige Paulus, Er lässt uns niemals über unsere Kräfte versucht werden. „Gott aber ist getreu, Er wird euch nicht über euere Kräfte versuchen lassen” (1 Kor 10, 13). Aber Er will, dass wir in den Versuchungen zu Ihm eilen, um Kraft zum Widerstand zu erlangen. Der heilige Augustinus sagt: „Das Gesetz ist gegeben, damit wir die Gnade begehren; die Gnade ist gegeben, damit wir das Gesetz erfüllen.” Können wir das Gesetz ohne die Gnade nicht beobachten, so ist es uns von Gott gegeben, damit wir Ihn um die Gnade, es zu erfüllen, bitten, und dann gibt Er uns die Gnade zur Erfüllung des Gesetzes. Dies ist bündig in den Worten des Konzils von Trient ausgedrückt: „Gott befiehlt nichts Unmögliches, sondern wenn Er etwas befiehlt, so mahnt Er zu tun, was man kann, und um das zu bitten, was man nicht kann, und hilft dann, dass man es kann.”
Sonach will der Herr uns mit aller Geneigtheit seinen Beistand zur Überwindung der Versuchungen gewähren, verlangt aber als Bedingung Seiner Hilfe, dass wir zur Zeit der Versuchungen unsere Zuflucht zu Ihm nehmen; dies gilt besonders von den Versuchungen gegen die Keuschheit nach den Worten des weisen Mannes: „Nachdem ich wusste, dass ich nicht anders enthaltsam sein könnte, es würde mir denn von Gott gegeben..., so trat ich vor den Herrn und bat Ihn” (Weish 8, 17). Seien wir überzeugt, dass wir die Fleischeslust nicht zu überwinden vermögen, nisi Deus det, wenn Gott uns Seine Gnadenhilfe nicht verleiht; Er wird sie uns aber nicht verleihen, wenn wir nicht beten; beten wir aber, so erhalten wir sie gewiss, und wir werden dann der ganzen Hölle widerstehen können in der Kraft Gottes, der uns stärkt, nach den Worten des heiligen Paulus: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt” (Phil 4, 13).
Ein kräftiges Hilfsmittel zur Erlangung der göttlichen Gnaden ist auch die Anrufung der Heiligen, die bei Gott viel vermögen, namentlich zugunsten ihrer besonderen Verehrer. Es ist dies nicht etwa bloß eine willkürliche, sondern eine pflichtmäßige Andacht; denn, wie der heilige Thomas (In 4. Sent. Dist. 45. q. 3. art. 2) lehrt, verlangt es die von Gott gesetzte Ordnung, dass wir Sterbliche mittelst der Gebete der Heiligen die zum Heile notwendigen Gnadenhilfen erlangen. Dies ist aber in ganz vorzüglichem Grade von der Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria, deren Bitten die aller Heiligen an Wirksamkeit übertreffen, zu verstehen, um so mehr, weil wir, wie der heilige Bernhard sagt, durch Maria Zutritt haben zu Jesus Christus, unserem Mittler und Heiland: „Durch dich haben wir Zutritt zum Sohne, dass durch dich uns aufnehme, der durch dich ist uns gegeben .” Ich glaube sowohl in meinem Werke von den „Herrlichkeiten Mariä”, (Hauptst. 5. §. 1 u. 2) als auch in meinem Buche „Von dem Gebet” (Hauptst. 1) zur Genüge die Lehre bewiesen zu haben, welche viele Heilige, insbesondere der heilige Bernhard, und viele Gottesgelehrte, z.B. P. Alexander und P. Contenson festhalten, die Lehre nämlich, dass alle Gnaden, welche wir von Gott erhalten, uns durch die Vermittlung Mariä zuteil werden. Dieser Lehre fügt der heilige Bernhard die Mahnung bei: „Suchen wir die Gnade, aber suchen wir sie durch Maria; denn Sie findet, was Sie sucht, und kann keine Bitte abschlagen.” Auf dieselbe Weise sprechen sich der heilige Petrus Damiani, der heilige Bonaventura, der heilige Bernhardin von Siena, der heilige Antonius und andere aus.
Beten wir also und beten wir mit Vertrauen, nach der Mahnung des Apostels: „Darum lasset uns mit Zuversicht hinzutreten zum Throne der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben” (Hebr 4, 16). Jetzt sitzt Jesus Christus auf einem Throne der Gnaden, um alle, die zu Ihm ihre Zuflucht nehmen, zu trösten, und spricht: „Bittet, und es wird euch gegeben werden.” Am Gerichtstage wird Er auch auf einem Throne sitzen, aber auf einem Throne der Gerechtigkeit: wie groß wäre die Torheit desjenigen, der statt zu Jesus jetzt, wo Er Gnaden anbietet, zu gehen und sich so von seinem Elende zu befreien, erst dann zu Jesus gehen wollte, wenn Er als Richter kommt und keine Barmherzigkeit mehr übt? Jetzt beteuert Er uns, alles solle uns gewährt werden, um was wir Ihn vertrauensvoll bitten: „Was immer ihr im Gebet begehrt, glaubt nur, dass ihr es erhaltet, und es wird euch zuteil werden” (Mk 11, 24). Welch anderes Anerbieten kann ein Freund dem anderen zum Beweise seiner Liebe machen als dieses: Bitte, um was du willst, ich will es dir geben?
Wir lesen ferner beim heiligen Jakobus: „Fehlt es aber jemandem aus euch an Weisheit, der erbitte sie von Gott, welcher allen reichlich gibt, und keine Vorwürfe macht; und sie wird ihm gegeben werden” (Jak 1, 5). Weisheit bedeutet hier die Kunst, seine Seele zu retten: wer also in den Besitz dieser Weisheit kommen will, muss Gott um die zum Heile notwendigen Gnaden bitten. Wird aber Gott sie geben? Gewiss, und zwar reichlich, mehr als man begehrt. Bemerkenswert sind ferner die Worte: nec inproperat, und keine Vorwürfe macht: wenn der Sünder seine Sünden bereut und zu Gott um Rettung fleht, so tut Gott nicht, wie die Menschen tun; diese werfen den Undankbaren ihren Undank vor und schlagen ihnen ihre Bitte ab; Gott aber gibt gerne so viel und mehr noch als man begehrt. Sonach muss, wollen wir selig werden, unser Mund bis zum Tode immerfort zum Beten geöffnet sein und sprechen: „Mein Gott, hilf mir; mein Jesus, Barmherzigkeit; Maria, Barmherzigkeit.”
Hören wir auf, zu beten, so sind wir verloren. Beten wir für uns, und beten wir auch für die Sünder, was Gott so wohlgefällt! Beten wir auch jeden Tag für die heiligen Seelen im Fegfeuer! Diese heiligen Gefangenen zeigen sich gegen jeden, der für sie betet, überaus dankbar. In allen unseren Gebeten aber lasst uns Gott um Gnaden bitten im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, da Jesus selbst uns lehrt, dass Gott uns alles, um was wir Ihn in Seinem Namen bitten, geben werde: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: Wenn ihr den Vater in Meinem Namen um etwas bitten werdet, so wird Er es euch geben” (Joh 16, 23).
Mein Gott, die Gnade, um welche ich Dich heute vor allem um der Verdienste Jesu Christi willen bitte, ist diese: verleihe mir, dass ich allezeit in meinem Leben und vorzüglich zur Zeit der Versuchung mich Dir empfehle und von Dir um Jesu und Mariä willen Hilfe hoffe. Heilige Jungfrau, erwirke mir diese Gnade, von der mein Heil abhängt.
Es handelt sich bei diesem Text um ein Kapitel aus dem Buch des hl. Alfons Maria von Liguori Elemente einer Spiritualität der Liebe, welches man auf www.apostolat.de kostenlos bestellen kann.