Von dem Gedanken an die Ewigkeit
Hl. Alfons Maria von Liguori, Kirchenlehrer
Der Gedanke an die Ewigkeit wird von dem heiligen Augustinus der große Gedanke genannt, magna cogitatio. Dieser Gedanke ließ dem Heiligen alle Schätze und Herrlichkeiten dieser Welt nur als Spreu, Dunst und Kot erscheinen. Dieser Gedanke bewog so viele Einsiedler, sich in Wüsten und Höhlen zu vergraben, und so viele vornehme Jünglinge und selbst Könige und Kaiser, sich in Klöster einzuschließen. Dieser Gedanke gab so vielen Märtyrern den Mut, die Qualen der Folter, der eisernen Krallen, des glühenden Rostes und des Feuertodes zu erdulden. Nein, wir sind nicht für diese Erde erschaffen; das Endziel, zu dem Gott uns in die Welt gesetzt, ist, dass wir durch gute Werke das ewige Leben verdienen: Finem vero vitam aeternam „als Ende das ewige Leben“ (Röm 6, 22). Darum haben wir in diesem Leben, wie der heilige Eucherius sagt, unser Augenmerk nur auf eine Angelegenheit zu richten, auf die Ewigkeit, d. i. auf den Gewinn der seligen und die Vermeidung der unseligen Ewigkeit. Negotium, pro quo tendimus, aeternitas est: „Das Geschäft, um das wir ringen, ist die Ewigkeit.“ Sorgen wir für das Gelingen dieses Geschäftes, so werden wir ewig selig sein; lassen wir es misslingen, so wird uns ewiges Wehe treffen. Wohl dem, der seinen Blick unverwandt auf die Ewigkeit heftet in lebendigem Glauben, dass er nach kurzer Zeit sterben und in die Ewigkeit eingehen muss. „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“ (Röm 1, 17). Der Glaube ist es, welcher die Gerechten in der Gnade Gottes erhält und den Seelen das Leben verleiht, indem er sie von den irdischen Anhänglichkeiten losmacht und sie der ewigen Güter gedenken lässt, welche Gott denen, die Ihn lieben, bereit hält.
Alle Sünden, sagt die heilige Theresia, haben ihren Ursprung im Mangel an Glauben. Daher ist es zur Überwindung der Leidenschaften und Versuchungen notwendig, oft den Glauben zu beleben, sprechend: Credo vitam aeternam, ich glaube, dass auf dieses Leben, das für mich bald endigen wird, ein ewiges Leben folgt, das für mich je nach meinen meinen Verdiensten oder Sünden entweder voll Freuden oder voll Leiden sein wird.
Wer an die Ewigkeit denkt und sich doch nicht zu Gott bekehrt, hat nach dem heiligen Augustinus entweder den Verstand oder den Glauben verloren. Darauf bezieht sich, was der heilige Johannes Chrysostomus von den Heiden erzählt, dass sie, wenn sie die Christen sündigen sahen, dieselben Lügner oder Toren nannten: „Wenn ihr nicht glaubt“, sagten sie, „was ihr öffentlich zu glauben vorgebt, dann seid ihr Lügner; glaubt ihr aber an die Ewigkeit und sündigt doch, dann seid ihr Toren.“ „Weh den Sündern“, ruft der heilige Cäsarius aus, „sie treten in die Ewigkeit ein, ohne sie zu kennen, weil sie an dieselbe nicht denken wollten. Aber zweimal Weh“, fährt er fort, „sie gehen hinein, aber nicht mehr heraus.“ Die Unglücklichen! Es öffnet sich ihnen die Höllenpforte nur zum Eintritt, nicht mehr zum Austritt.
Die heilige Theresia wiederholte ihren Mitschwestern: „Töchter, eine Seele, eine Ewigkeit!“ „Töchter“, wollte sie sagen, „wir haben nur eine Seele: ist diese verloren, so ist alles verloren; ist sie einmal verloren, so ist sie für immer verloren.“ Kurz, von dem letztmaligen Öffnen unseres Mundes beim Verscheiden hängt es ab, ob ewiger Friede oder ewige Verzweiflung unser Anteil sein wird. Selbst wenn die Ewigkeit des anderen Lebens, wenn Himmel und Hölle nur eine Meinung der Gelehrten, und etwas Ungewisses wären, so müssten wir doch mit aller Sorgfalt eines guten Wandels uns befleißen, um uns nicht der Gefahr auszusetzen, die Seele für immer zu verlieren! Aber nein, hier handelt es sich nicht um ungewisse, sondern um gewisse Dinge, um Sachen des Glaubens, die viel gewisser sind als alles, was wir mit leiblichen Augen wahrnehmen. Bitten wir darum den Herrn um Mehrung des Glaubens: Domine, adauge fidem. Herr, vermehre in uns den Glauben! Denn wenn wir nicht fest im Glauben wurzeln, können wir noch schlechter werden als Luther und Calvin. Dagegen kann ein Gedanke des lebendigen Glaubens an die uns erwartende Ewigkeit uns heilig machen. Wer an die Ewigkeit denkt, bemerkt der heilige Gregor, wird im Glücke nicht aufgeblasen und im Unglücke nicht niedergeschlagen; denn weil die Welt nichts hat, wonach er verlangt, so hat sie auch nichts, wovor er sich zu fürchten braucht.
Haben wir etwas zu leiden, sei es Krankheit oder Verfolgung, so wollen wir an die Hölle denken, die wir durch unsere Sünden verdient haben; dann werden wir jedes Kreuz leicht finden und dem Herrn danken mit den Worten: „Barmherzigkeit des Herrn ist's, dass wir nicht vernichtet sind“ (Klgl 3, 22). Sprechen wir mit David: Wenn Gott sich meiner nicht erbarmt hätte, so würde ich schon seit der Zeit, da ich Ihn zum ersten Mal mit einer Todsünde beleidigte, in der Hölle brennen: „Wenn nicht der Herr mir geholfen, so läge beinahe in der Hölle meine Seele“ (Ps 93, 17). Soviel an mir lag, war ich bereits verloren: du warst es aber, o Gott der Barmherzigkeit, der Seine Hand ausstreckte und mich der Hölle entriss! „Du hast meine Seele gerettet, auf dass sie nicht zu Grunde gehe“ (Is. 38, 17).
Mein Gott, Du weißt, wie oft ich die Hölle verdient habe; aber dennoch befiehlst Du mir zu hoffen; und ich will hoffen. Meine Sünden schrecken mich, aber Dein Tod und Deine Verheißung, dem Reumütigen zu verzeihen, gibt mir Mut: „Ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, o Gott, nicht verachten“ (Ps 50, 19). Ehedem habe ich Dich verachtet, jetzt aber liebe ich Dich über alles, und Dich beleidigt zu haben, schmerzt mich mehr als jedes andere Übel. Mein Jesus, erbarme Dich meiner! Mutter Gottes Maria, bitte für mich!
Heiliger Alfons Maria von Liguori: Elemente einer Spiritualität der Liebe