Wie das Rotkehlchen zu seiner roten Kehle kam

 

Vor langer Zeit sah die Welt noch viel, viel schöner aus. Es gab sehr viele bunte Blumenwiesen im Frühling, und wenn die liebe Sonne auf sie herunterlachte und den Erdboden aufwärmte, tummelten sich auch die singenden Vöglein wieder im ganzen Land. Sie zwitscherten und schlugen mit ihren kleinen Flügelchen so lustig, dass es eine Freude war für den lieben Gott, ihnen dabei zuzuschauen.

„Füt, füt, füt" sang das kleine Rotkehlchen, das gerade auf den Zweigen eines knospenden Kirschbaumes spazieren ging an diesen prachtvollen Frühlingstagen.

„Füt, füt füüüt" sang es vor sich hin. „Rot - rot - rootkehlchen, Rotkehlchen ist mein Name, füt!" Das kleine Vögelchen sah sich dabei auf die Brust, wo seine kleine Kehle hervorkam beim Zwitschern. Sie war weiß wie die kleinen Gänseblümchen im Gras.

Der kleine Vogel dachte nach: „Warum nennt man mich eigentlich Rotkehlchen, wenn meine Kehle so weiß ist wie die weißen Blümchen da unten auf der Wiese? Hat der liebe Gott vielleicht bei meiner Erschaffung die rote Farbe vergessen?" Und ganz entsetzt über seine eigenen Gedanken flog er unruhig auf ein Nest zu, das dort am Fuß des Baumstammes gebaut war. Darin waren kleine Rotkehlchenbabies, vier Stück. Sie reckten alle ihre kleinen Köpfchen aus dem Nest und zwitscherten fröhlich im Quartett: „Mama, wo warst du?" Und alle hatten sie auch ein schneeweißes Kehlchen, so wie ihre Mutter.

„Das ist aber seltsam", dachte die Rotkehlchenmama nach, dann wippte sie ein paar Mal mit ihrem Federschwänzchen und rief: „Macht euch keine Sorgen, ich bin gleich wieder zurück!" Mit offenen Schnäbeln schauten die Jungen voll Staunen ihr nach, wie sie ganz hoch in die Luft hinaufflatterte, bis sie als kleiner Punkt schließlich in den Wolken verschwand.

Ja, liebe Kinder! So beginnt unsere Erzählung vom Rotkehlchen. Und oft schon haben sich Menschen über diesen kleinen Vogel die verschiedensten Geschichten erzählt. Da könnt ihr verstehen, dass er etwas ganz besonderes an sich hat. Und jetzt hört zu, wie es weiter geht:

Die Rotkehlchenmutter merkte, wie unter ihr die Wiese verschwand und der Kirschbaum war ebenfalls kaum noch zu sehen. Und sie flog immer noch höher durch die weißen Wolkenbetten ins blaue Himmelszelt hinauf, so weit wie noch nie zuvor. Denn das Rotkehlchen wollte ganz in die Nähe vom lieben Gott. „Ob es wohl noch lange dauert, bis die große Himmelstüre kommt?" dachte es. Aber, nur Engelsflügel können diese große Entfernung durchfliegen ohne müde zu werden.

Und so musste unser Vogel nach einer Weile feststellen, dass seine zarten Flügel anfingen, sich immer langsamer zu bewegen. Aus Erfahrung wusste er, was das bedeutet: nun wird es Zeit zum Umkehren, denn die Kraft lässt nach. Er konnte auch nicht mehr höher steigen, wenn er sich auch noch so fest anstrengte. Da rief er aus voller Kehle, so laut er nur mit seiner kleinen Vogelstimme konnte, damit der liebe Gott auf seinem Himmelsthron es auch höre: „Lieber Gott, mein Schöpfer, hörst du mich? Bitte, bitte, sage mir, warum nennst du mich Rotkehlchen und meine Kehle ist aber ganz weiß wie der Schnee und die Gänseblümchen?"

Da antwortete der Vater im Himmel milde: „Mein geliebtes Rotkehlchen! Ich habe alle meine Geschöpfe bei ihrem Namen gerufen. Und auch du sollst deine Aufgabe erfüllen, dann wirst du in Zukunft die rote Kehle bekommen. Aber du musst sie dir zuerst verdienen?" Da fragte der kleine Vogel zurück: „Aber wie denn nur, mein Herr und Gott, wo ich doch so winzig und schwach bin?"

Gott erklärte nun unserem Rotkehlchen: „Schau, du musst lieben, denn rot ist die Farbe der Liebe. Mein Segen verhilft dir dazu. Und jetzt, fliege zur Erde zurück und liebe! Liebe, liebe!" Es hallte durch den Himmel wie ein nie aufhörendes Echo, dieses letzte Wort, das der liebe Gott zum Rotkehlchen gesprochen hat: die Liebe.

Das Rotkehlchen folgte dem Befehl und flog zurück. Dieses Wort hallte noch in seinem kleinen Vogelherzchen nach, als es auf der heimatlichen Wiese auf dem Steinweg landete, der zum Kirschbaum hinführte.

Wie freuten sich die Jungen, als sie ihre Mutter wiedersahen. Und ganz aufgeregt erzählte sie ihnen von dem großen wunderbaren Erlebnis, von ihrer Begegnung mit dem lieben Gott und was er gesagt hatte.

So lebten sie glücklich miteinander, bis eines Tages von draußen ein Geschrei ertönte, ein tosendes Geräusch durchbrach plötzlich ihren Frieden. Das Rotkehlchen schreckte auf, es hörte sich ja an wie ein Wirbelsturm von der Ferne oder Beben und Donnergrollen am Horizont. Erstarrt sah das Vöglein zum Himmel hinauf. Aber er war blau und sonnenklar wie zuvor.

Die Vogelmutter flog aus dem Nest und langsam auf den Lärm zu, da sah sie eine riesige Menschenmenge den Hügel heraufkommen. Sie sahen furchtbar böse aus und schnitten grausige Grimassen mit ihren Gesichtern. Manche fletschten den Mund und knirschten mit den Zähnen, andere knurrten wie gefährliche Hunde. Sie stießen Drohungen und Verwünschungen aus, schrien und fluchten. Einige warfen sogar mit Steinen auf etwas oder schlugen mit Stricken zu. Sie waren so böse wie wilde Tiere.

Sie kamen näher heran. Nun konnte man schon genauer die Soldaten mit Helmen und Schwertern erkennen, und bewacht in ihrer Mitte ein tief gebeugter Mann, der einen Stamm mit einem gewaltigen Querbalken auf seiner Schulter dahinschleppte, das lange Ende schleifte polternd über die Steine: es war ein riesengroßes, hölzernes Kreuz.

Noch nie zuvor hatte das Rotkehlchen so etwas gesehen und es hüpfte ganz vorsichtig über die Büsche am Wegrand mit der Menschenmenge mit. Da sah es, wie der arme Mann schwerverletzt und barfuß war, seine Beine und Füße bluteten. Langstachliges Dornengestrüpp war wie eine Kappe um seinen Kopf gewunden, und jede Bewegung musste ihm große Qualen bereiten. Ja, die Dornen hingen ihm so weit ins Gesicht, dass sie fast seine Augen bedeckten. Und das Blut lief von seinem Haupt am ganzen Körper herunter. Keiner half ihm.

Die Soldaten hielten zwar die anderen Leute von ihm fern, aber das war auch alles. Sie selber schauten kaum zu ihm hin, so als wäre alles ganz in Ordnung. Dabei waren die vielen Menschen so bitter böse auf den Mann mit dem Kreuz, dass ihr Hassgeschrei dem Rotkehlchen die Kehle zuschnürte und es Angst bekam, sie würden ihn ermorden. Furchtsam zog es sein Köpfchen ein und wagte nicht zu piepsen. „Hoffentlich stechen ihm die Dornen nicht die Augen aus, sonst ist er auch noch blind, der Arme", dachte es.

Die Vogelmutter hatte schon oft die Menschen beobachtet von den hohen Bäumen aus. Man sah sie lachen, spielen, weinen, aber auch streiten und schimpfen. Sie wusste ja, dass man den Menschen nicht trauen kann, aber so etwas wie heute - nein, das hätte sie nie für möglich gehalten. Dass diese Menschen so grausam sein können, wie wilde Löwen, das hatte das Rotkehlchen nicht gewusst. Es wurde ganz traurig darüber und bekam immer mehr Mitleid mit dem armen Mann, der so elend daherschwankte mit dem riesigen Holzkreuz und so verwundet und krank aussah. Sein weißes Kleid war ganz rot vor lauter Blut.

Der kleine Vogel folgte ihnen mit einem gewissen Sicherheitsabstand auf dem ganzen Weg entlang, der sich lange und stetig ansteigend dahinzog, und schaute, was geschehen würde. Als sie den Gipfel des felsigen Hügels erreicht hatten, machten sie Halt. Ängstlich spähte das Rotkehlchen hinter ein paar Grashalmen hervor. „Was tun sie jetzt?" dachte es, laut pochte sein Herzchen. Dem armen Mann wurde das Kreuz von der Schulter abgenommen und neben ihm auf den Boden geworfen. Das Rotkehlchen atmete auf: „Ah, endlich kann er sich ausruhen, der Ärmste." Aber, o weh! Nein! Einer der Soldaten sprang hinzu, packte ihn am Kleid und riss es ihm mit einem Ruck vom Leib herunter. O, o! Der Anblick war entsetzlich. Nackt und von Wunden zerfleischt am ganzen Körper stand der Mann jetzt da. Das Blut strömte von neuem und rann in Bächlein nur so herunter. Die kleine Vogelmutter im Gras zitterte vor Schreck, ihr Herz war von Schmerz und Mitleid wie zerrissen.

Aber es kam noch schlimmer! Die Soldaten warfen den Mann brutal auf das Holzkreuz, das am Boden lag und spannten seine verwundeten Arme am Querbalken aus. Was hatten sie nur vor? Da kam ein anderer von ihnen mit einem Korb. Er holte einen Hammer und einen großen Nagel heraus und schlug durch die rechte Hand des gequälten Mannes den langen Nagel ins Holz, so dass er daran angenagelt war. Der Mann krümmte sich und ein Schmerzensschrei entrang sich seinem Mund.

Es war ein grauenvoller Anblick und das Rotkehlchen, das versteckt nur ein paar Schritte davon entfernt war, zuckte bei jedem Hammerschlag, als ob es selber getroffen würde. Wie ein zusammengedrücktes Federbällchen wurde es immer kleiner, bis es fast ganz am Boden versunken war. Das war das aller allerschlimmste, was das Rotkehlchen je gesehen hatte auf der großen weiten Welt.

Aber das genügte den bösen Menschen noch nicht. Sie hörten nicht auf. Auch die andere Hand und die beiden Füße des todkranken Mannes wurden genauso grausam an das rauhe Kreuz genagelt, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte, und er weinte und weinte. Das Rotkehlchen schüttelte ohnmächtig sein kleines Köpfchen und wollte ihm doch so gerne helfen.

Danach packten die Soldaten das Kreuz mit dem Mann, der daran angenagelt war und stellten es senkrecht auf, um ihn noch mehr zu quälen. „Dass es soviel Bosheit bei den Menschen gibt!" dachte das Rotkehlchen fassungslos und ganz außer sich.

Drei Stunden lang hing der arme Mann am Kreuz an seinen angenagelten Händen und Füßen und die Menschen beschimpften und verspotteten ihn, ohne müde zu werden, ohne Unterlass.

Der Vogel wollte ihm beistehen und flog zu ihm hinauf. Das Mitleid hatte die Angst vertrieben und er kümmerte sich nicht um die Steine die an ihm vorbeisausten, welche die bösen Menschen auf den gekreuzigten Mann warfen. Er flog ganz nah zu ihm hin, bis auf den Querbalken an seiner Schulter, er piepste und sang dann ein kleines trauriges Liedchen. Auch machte er mit seinem Flügelschlag viel Wind vor seinem Gesicht, weil die Hitze der Mittagssonne den Armen so sehr plagte. Der sterbende Mann sah mit einem Mal das Rotkehlchen an und lächelte ihm freundlich und dankbar zu trotz all seiner Qual. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis er den Kopf neigte, seinen letzten Schrei ausstieß und starb.

Tieftraurig flog das kleine Rotkehlchen von seiner Seite auf den Boden hinunter. Da senkte es sein kleines Köpfchen, „piep, piep, piep", sagte es nur noch ganz leise. Nun kam ein Soldat und stach mit einer großen Lanze dem armen Toten in die Brust und sein Blut flöß aus der Lanzenwunde aus seinem geöffneten Herzen heraus.

Das Rotkehlchen schaute zitternd auf und sah es. Voller Angst und Bangen trat es von einem Füßchen auf das andere, dann öffnete es schnell seine Flügel und flog eilends zurück zum Kirschbaum ins Nest zu seinen Jungen. Ja, es hatte große Furcht, dass der böse Soldat die jungen Rotkehlchen genauso töten könne. Aber dieser tat es nicht, sondern es ging eine plötzliche Veränderung mit ihm vor, als er nach dem Lanzenstich zurücktrat er blickte zum Kreuz hinauf und rief laut: „Wahrhaft, dieser Mann war Gottes Sohn."

Die Vogelmutter breitete schweigsam ihre Flügel schützend über ihre Kinder aus, die sich gar nicht zu rühren und nichts zu fragen wagten. Sie dachte dabei nach: „Was hat der Soldat gerade gesagt - Gottes Sohn?" Und dann fiel ihr wieder ein, was Gott Vater zu ihr gesprochen hatte wegen ihrer weißen Kehle.

Da zwitscherte eines der Jungen: „Mama, schau mal, du hast rote Brustfedern bekommen!" - Ja, ja!" schreien auch die anderen drei laut, „nun bist du ein echtes Rotkehlchen geworden!" Und wie die Mutter ihre Äuglein überrascht dorthin wendet, war wirklich ein blutroter Reck auf ihrer Vogelbrust sichtbar. „Das Blut dieses Mannes muss mich getroffen haben", dachte sie und wollte es abwischen mit ihrem Schnäbelchen, aber es ging nicht weg. Auch das Wasser im Teich der Stadt wollte die Farbe nicht entfernen. Da musste das Rotkehlchen sich wieder erinnern, wie ihm der liebe Gott geboten hatte: „Fliege zurück zur Erde und liebe!"

Ja, es liebte diesen armen Mann, der da am Kreuz gestorben war. Aber jetzt war es zu spät, er war tot, unter Finsternissen, Blitz und Donner hatte er seinen Geist aufgegeben. Das Rotkehlchen konnte noch zusehen, wie der Sohn Gottes vom Kreuz herabgeholt und in ein Felsengrab getragen wurde. Trauernd flog es zum Grabe Tag für Tag und klagte: „piep, piep, piep". Aber es konnte nicht zu ihm hinein, weil eine große Steinplatte den ganzen Eingang versperrte.

Doch dann, am dritten Tage, als die Sonne morgens aufging, war etwas anders als zuvor. Die Vogelmutter erwachte und war überglücklich. Sie konnte es sich aber nicht erklären. Auch der Kirschbaum stand plötzlich in voller Blüte da, über Nacht hatten sich alle seine rosaroten Knospen geöffnet, und die Sonne strahlte lieblicher und schöner als je zuvor. Der Wind trug den süßen Blütenduft durch die Luft. Das Rotkehlchen staunte und schlüpfte langsam aus dem Nest.

Da stand ein Mensch in langem, weißem Gewand neben dem Baum, ein wunderschöner junger Mann war es. Er streckte dem Rotkehlchen sanft seinen Zeigefinger entgegen und sagte lächelnd: „Komm doch her, mein kleiner Freund!"

Da erst erkannte der kleine Vogel, dass dies der Sohn Gottes war, derselbe, der vor drei Tagen dort am Kreuz gestorben war. Es sah nämlich in seinen Händen und Füßen die rotleuchtenden Wundmale der Kreuzigung, schimmernd wie Rubine. Das Rotkehlchen hüpfte vor Freude auf seiner Hand und jubilierte den lautesten Freudenvogelsang aller Zeiten: „Alleluja, alleluja!" Dies hörten die Jungen im Nest, sie flogen herbei und zwitscherten begeistert mit.

Ja, Kinder! Das war der schönste Ostermorgen, den die Rotkehlchen-Familie in ihrem ganzen Leben erlebt hatte. Der auferstandene Erlöser Jesus Christus streichelte seinen kleinen Freund und sagte zu ihm: „Weil du mich so liebst, hast du dir dein rotes Kehlchen verdient. Von heute an sollen alle Rotkehlchen auf der ganzen Welt immer diese roten Brustfedern haben, als ein Zeichen, dass die Liebe zu Gott von den Menschen nie mehr vergessen wird, bis ans Ende der Welt."