Das Willkommen eines Kreuzträgers

I.

 

„Herr, siehe, der, den du liebst, ist krank.“ (Joh 11,3)

 

Vor der Kommunion

Wie prüft Gott seine Freunde, und wie erwartet er, dass sie auf ihn vertrauen! Er befand sich jenseits des Jordans, an dem Orte, wo Johannes taufte, als ein Bote von den Schwestern im Bethanien kam und ihm von der Krankheit ihres Bruders Bericht erstattete. „Herr, siehe, der, den du liebst, ist krank.“ Es war eine vertrauliche Mitteilung, eine bloße Darlegung ihrer Not, keine Bitte, dass er kommen möge, noch weniger ein zudringliches Begehren. Sie war vertraulich und rücksichtsvoll. Sie erinnerte ihn nur daran, dass das Leid einen betraf, den er liebte.

Der Überbringer der Botschaft wartete, um zu sehen, ob unser Herr mit ihm gehen und, wie es seine Gewohnheit war, seine Lehre unterbrechen würde, um sich in ein Haus der Trauer zu begeben. Nein. „Als er nun gehört hatte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war.“ (Joh 11, 6) Es wird uns nicht einmal berichtet, dass er irgendeine Botschaft des Trostes an die Schwestern gesandt habe. Alles, was er sagte, war: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“ (Joh 11, 4)

Von Bethanien nach Peräa waren es acht Stunden und der Bote musste einen Tag auf der Reise gewesen sein. Unser Herr blieb noch zwei Tage in Peräa, bevor er nach Judäa zurückkehrte, und bei seiner Ankunft fand er, das Lazarus schon vier Tage im Grabe war. Folglich muss er bald nach der Abreise des Boten gestorben und nach ungefähr zwei Stunden begraben worden sein.

Was dachten Martha und Maria, als sie, gemäß der Sitte der Juden, mit bloßen Füßen und mit ihren langen, schwarzen Schleiern bedeckt, am Boden saßen und ihren toten beklagten? Man brachte ihnen viele nutzlose Teilnahme entgegen. Es waren viele Juden zu Martha und Maria gekommen, um sie ihres Bruders wegen zu trösten und ihr Erstaunen auszudrücken, dass der große Wundertäter, welcher Fremden gegenüber seine Gunst so verschwenderisch gezeigt hatte, unfähig gewesen war, etwas für seine Freunde zu tun. Die bestürzten Schwestern hörten stillschweigend zu. Was hätten sie auch sagen können? Der Herr Jesus war nicht gekommen, auch hatte er ihrem Schmerze keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt; er hatte nur das geheimnisvolle Wort gesprochen: Diese Krankheit ist nicht zum Tode; und die Versuchung, immer geschäftig dort, wo es Leidtragende gibt, flüsterte: Das also war der große Prophet, auf den sie ihr Vertrauen gesetzt hatten. Es schien, als kümmere er sich nicht viel um sie oder als verstünde er die Lage nicht. Zu der Stunde, als er gesagt hatte, die Krankheit wäre nicht zum Tode, war Lazarus schon gestorben.

Wie trugen Martha und Maria die Prüfung innerlich und äußerlich?! Wie ermunterten sie sich gegenseitig zum Vertrauen!? Sie konnten Jesu Worte, „dass diese Krankheit zur Ehre Gottes sei, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“, nicht ergründen.

Seine Wege waren unerforschlich. Aber in ihrer Trostlosigkeit hielten sie fest an ihn. Sie dachten an seine Zärtlichkeit in den vergangenen Jahren und unaufhörlich wiederholten sie, dass Lazarus nicht gestorben sein würde, wenn er dagewesen wäre. Das auch waren die ersten Worte, die auf ihre Lippen kamen, als er endlich anlangte und sie sich ihm zu Füßen warfen. Der Vorwurf, mit Liebe gepaart, brachte Tränen in seine Augen, obwohl er wusste, dass die Zeit für ihn gekommen war, ihre Trauer in Freude zu verwandeln.

Doch wäre es nicht nötig gewesen, sie vier Tage lang so schmerzlich leiden zu lassen. Ein Wort, das ihnen den Sinn seiner Rede enthüllt hätte, wäre so leicht gewesen. Gab es irgendeinen Grund, warum er sie eine Zeitlang in ihrer Trostlosigkeit ließ? Ja. „Jesus aber liebte Maria und ihre Schwester Martha und den Lazarus. Als er nun gehört hatte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war.“  (Joh 11, 6) Ein Künstler verwendet zu seinem Werke die geeignetsten Werkzeuge. Für die Heiligung der Seelen benutzt Gott das Instrument, welches den Urheber ihrer Erlösung zur Vollendung brachte. (Hebr 2, 10 ) Seine Art, sie zu behandeln, ist unendlich verschieden, aber wir finden niemand, der ohne Kreuz durch das Leben gewandelt wäre. Nichts kann das Kreuz ersetzen oder dessen Werk vollbringen. Dort, wo es lange verweilt und gut aufgenommen wird, reinigt, stärkt, veredelter es. Es bewirkt eine Läuterung, es gibt eine geistige Kraft, einen Trost, eine Reife, die wir an jenen Seelen nicht finden, welche nur vorübergehend in seiner Schule waren. Das Kreuz ist es, dass alle möglichen Fähigkeiten der menschlichen Natur entwickelt. Aber wo das Kreuz gegenwärtig ist, da weilt auch Gott, welcher dafür sorgt, dass es nicht zu schwer sei und nicht zu lange verweile. Unser Herr sehnt sich nach dem Augenblicke, wo er jene trösten konnte, die er liebte. Es liegt eine gewisse Begierde in den Worten, die er zu den Zwölfen sprach: „Lasst uns wieder nach Judäa gehen. Ich freue mich um euretwillen, dass ich nicht dort war, aber lasst uns hingehen.“ (Joh 11, 7 f.)

„Lasst uns hingehen!“ Sprich also heute, lieber Gott, wenn du zu mir kommst. Ich heiße dich willkommen in einem traurigen Herzen, aber dieses Herz hält fest zu dir in seinem Schmerze, unterwirft sich deinem Willen, geht in deine Absichten ein und hofft, dass du diese und jede Prüfung zu seinem Besten lenken wirst. Alle Dinge gereichen denen zum besten, die dich lieben. Ich liebe dich, o Herr; du weißt, dass ich dich liebe. Ich weiß, dass das Kreuz mir die Gelegenheit bietet, dir eine reinere und edlere Liebe zu beweisen. Ich weiß, dass du inmitten des Schmerzes, der in jede Fiber der Seele und des Leibes drang, deine Liebe gegen mich bewiesest. Nimm meinen Schmerz, nimm die bereitwillige Annahme des Kreuzes, das gegenwärtig auf mir lastet, als Beweis meiner Liebe hin! Durch die Zärtlichkeit deines Herzens, durch die Tränen, die du am Grabe des Lazarus geweint, ziehe mich durch diese Prüfung und durch jedes Kreuz, das du mir in meinem Leben noch schicken wirst, näher hin zu dir!

„Wo habt ihr ihn hingelegt?“

„Herr, komme und sieh!“ (Joh 11, 34)

Ein Freund muss alles sehen und hören, was uns betrifft. Nichts ist für seine Beobachtung zu gering. Nach Anhörung seines Rates pflegt alles besser vonstatten zu gehen. Haben wir einen Preis gewonnen, so muss er kommen und bewundern. Haben wir uns mit einem Mitmenschen entzweit, so muss er erfahren, wie das gekommen ist. Trauert unser Herz über den Tod eines Freundes, so muss er sehen, wo wir ihn hingelegt haben. „Ich habe euch Freunde genannt“, so spricht der Herr zu uns. Er schätzt das Vertrauen, das sowohl in den geringsten Angelegenheiten des täglichen Lebens als auch in den Stunden des Kreuzes auf seine Freundschaft baut. Ja, er bemüht sich sogar, Vertrauen zu erwecken. „Was sind das für Reden, die ihr miteinander auf dem Wege wechselt, und warum seid ihr so traurig?“ (Lk 24, 17)

Schwer begreifen wir, was er denen war, die er auf Erden seine Freunde nannte und wie sie eine Liebe, die so allmächtig, allweise, untrüglich, zart und sorgsam war, erwidern konnten. Wenn er nahe war, wich jede Gefahr. Daher das vertrauensvolle Wort Marthas und Marias: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Er flößte ein Vertrauen ein, das sich durch scheinbare Härte nicht erschüttern ließ. Schien er taub gegen ihre Bitten, so hatte er für seine Weigerung oder Verzögerung irgendeinen guten Grund; er pflegte ihnen schließlich etwas Besseres zu geben. Was dann kam, musste nicht nur gut, es musste das Beste sein, wenn ihm die Wahl überlassen blieb. Und so kam es, dass eine getäuschte Hoffnung das Vertrauen nicht verminderte. Man wusste, dass er auf bessere Art helfen werde. „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich, dass alles, was du von Gott begehrst, Gott dir geben wird.“ (Joh 11, 21 f.) „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen“, das gab er dem kananäischen Weibe zur Antwort, das ihm folgte, indem sie dringend flehte: „Herr, hilf mir!“ „Ja, Herr,“ antwortete es und verwendete geschickt seinen Einwand zu einer weiteren Bitte um Gnade.

Oh, dass wir auf ihn vertrauen könnten, wie die Freunde seines irdischen Lebens! Oh, dass wir lernen könnten, ihm all unser Leid zu Füßen zu legen! Er achtet nicht auf die Einseitigkeit unserer Erzählung, noch darauf, dass wir nur unsere eigene verfehlte Auffassung vorbringen, welche vollständig die unverkennbare Farbe der Selbstliebe trägt. Das Vertrauen ist es, dass er schätzt, dass rückhaltlose Vertrauen, dass ihm Gelegenheit gibt, uns seinen eigenen Geist einzuflößen, „indem er Öl und Wein“ eingießt, die beruhigende und stärkende Gnade, die wir brauchen. Wir werden nie von seinen Füßen weggehen, ohne dass der Schmerz unserer Wunden etwas gemildert, ohne dass die Last unseres Kreuzes verringert und der Wille gestählt wird, so dass wir mit größerem Mute unserem Meister auf dem steilen Pfade hinauf zur Höhe folgen.

 

Nach der Kommunion

„Heil unserem Gotte, der auf dem Throne sitzt“ — dem Throne seiner Glorie im Himmel, dem Throne hier auf Erden, in meinem armen Herzen.“

„Oh ihr Engel des Herrn, preiset den Herrn, lobet und erhebet ihn über alles in Ewigkeit!“

„Lobsinget unserem Gott, all seine Diener und die ihr ihn fürchtet, klein und groß!“

„Oh danket dem Herrn, denn er ist gut und seine Barmherzigkeit währet ewig!“

„Und nun, oh Herr, sei meiner eingedenk!“ (Tob 3, 3)

 

Ich komme zu dir, wie die Schwestern von Bethanien nach dem Tode ihres Bruders zu dir kamen. Sie haben alles getan, was von ihnen abhängt, um das Unglück zu verhindern. Die hatten alle menschlichen Mittel angewandt, gebetet, geduldig gewartet, nach Hilfe ausgeschaut, und dennoch war das Unglück gekommen. Ihre Herzen waren zermalmt, aber sie waren nicht empört, sie murrten nicht. Sie wunderten sich zwar über deine Wege, doch sie beteten an, was sie nicht ergründen konnten. Sie wandten sich nicht an Geschöpfe um Trost, sondern sie begaben sich zu dir, warfen sich zu deinen Füßen, schütteten ihr trauriges Herz aus und sprachen: „Herr, wärest du hier gewesen, so wäre unser Bruder nicht gestorben.“ Sie wussten, dass du allmächtig bist, aber dennoch trugen sie keine Bitte vor. Andere kamen und baten um Wunder und ihr Glaube wurde belohnt. Martha und Maria, die dich besser als verschiedene andere kennen, verlangen nichts. Demütig haben sie das Leid aus deiner Hand angenommen, nun legen sie es dir zu Füßen, blicken empor in dein Antlitz und vertrauen. Das vermochte mehr über dich als das dringendste Gebet. Und dürfen wir nicht sagen, dass das nämliche Vertrauen auch jetzt noch mehr über dich vermag? Dürfen wir nicht glauben, dass wir in unseren Leiden einen Anspruch auf dich haben, den Martha und Maria nicht hatten? Es war für sie unvergleichlich leichter, auf ihn, den sie als einen persönlichen Freund kannten und liebten, zu vertrauen, als für uns, die wir ihn noch nicht von Angesicht zu Angesicht geschaut und die wir ihn nur vom Hörensagen kennen. Aber gerade deshalb ist unser Verdienst größer. Wo die Sinne keinen Anhaltspunkt haben, muss der Glaube notwendigerweise festen Schrittes einherschreiten und sich standhafter an dich klammern. „Weil du mich gesehen hast, Thomas, hast du geglaubt; selig, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20, 29) Gesegnet, oh Herr, von deinen eigenen Lippen sind jene, die nicht gesehen, aber doch gleich Martha und Maria vertrauen, die ihren Kummer zum Altare bringen und es dir, dem verborgenen Gott, überlassen zu helfen, wann und wie du willst — indem du den Kelch von ihnen hinwegnimmst oder indem du sie stärkst, ihn großmütig zu trinken, wie es dein Wille ist und weil es dein Wille ist.

 

Aufopferung und Bitte

Gebet vor einem Kruzifix