14. Kapitel

Von dem Verhalten, wenn der Wille scheinbar von den niederen Seelenkräften und anderen Feinden überwunden und unterdrückt ist

Wenn es dir zuweilen scheint, der höhere Wille vermöge nichts wider den niederen und wider seine Feinde, weil du in dir kein wirksames Wollen verspürst, dann harre dennoch ruhig aus und gib den Kampf nicht auf! Du darfst dich nämlich nicht für überwunden halten, solange du dir nicht klar bewußt bist, daß du wirklich nachgegeben hast.

Gleichwie unser höherer Wille der niederen Triebe nicht bedarf, um seine eigenen Akte zu setzen, so kann er auch niemals, trotz heftiger Angriffe, ohne seine Zustimmung gezwungen werden, sich ihnen als besiegt zu ergeben. Gott hat ja unseren Willen mit Freiheit und einer solchen Energie ausgestattet, daß - mögen sich auch alle sinnlichen Triebe, alle Teufel und die ganze Welt miteinander gegen ihn verschwören und rüsten, um ihn mit aller Macht anzugreifen und zu bedrängen - er trotz ihrer Anfeindungen vollkommen frei das wollen und nicht wollen kann, was er will oder nicht will, und zwar sooft und solange (und in solcher Weise) und in der Absicht, wie es ihm beliebt.

Sollten dich bisweilen jene Feinde mit solcher Heftigkeit anfallen und dir so zusetzen, daß deinem Willen, gleichsam wie erstickt, der Atem vergeht: Laß den Mut nicht sinken und wirf die Waffen nicht zu Boden! Bediene dich in diesem Falle deiner Zunge zur Verteidigung und sprich: „Ich gebe nicht nach! Ich will nichts mit dir zu tun haben!" Mache es wie ein Krieger, der wenigstens mit dem Schwertknauf zuschlägt, wenn der Feind ihm auf dem Nacken sitzt und er ihn nicht mit des Schwertes Spitze zu treffen vermag. Und wie er dann, um den Feind mit der Spitze töten zu können, zurückspringt, so ziehe dich auf deine Selbsterkenntnis zurück: daß du nichts bist und nichts vermagst. Und im Vertrauen auf Gott, der alles vermag, versetze der feindlichen Leidenschaft mit den Worten einen Hieb: „Hilf mir, Herr! Hilf mir, o Gott! Helft mir, Jesus und Maria, damit ich ihr nicht nachgebe." Läßt der Feind dir Zeit, dann kannst du der Schwäche deines Willens zu Hilfe kommen, indem du dir verschiedene Gedanken vor die Seele führst, aus deren Betrachtung der Wille wieder Atem und Kraft wider seine Feinde schöpfen kann.

Du wirst zum Beispiel durch irgendeine Versuchung oder eine sonstige Drangsal in einer Weise von der Ungeduld bestürmt, daß dein Wille kaum zu widerstehen vermag; da kannst du ihn stärken, indem du in deinem Geiste folgende oder ähnliche Gedanken erwägst:

Erstens: Prüfe dich, ob du das Übel, das du leiden mußt, vielleicht verdienst, weil du selbst dazu den Anlaß gegeben hast. Hast du es verdient, dann mußt du eben das Harte und Unangenehme, das du dir selber zugefügt hast, wie es die Gerechtigkeit verlangt, auch geduldig in Kauf nehmen.

Zweitens: Hast du keine Schuld daran, dann denke einmal an andere Fehltritte, für die dich Gott noch nicht gestraft hat und für die du nicht genügend Buße getan hast. Erkennst du dann, daß Gottes Barmherzigkeit die Strafe, welche entweder die ewige oder die zeitliche im Fegfeuer wäre, in eine unbedeutende in diesem Leben umwandelt, so mußt du diese Strafe nicht nur gerne, sondern auch dankbar hinnehmen.

Drittens: Sollte es dir scheinen, als hättest du zuviel Buße getan und die göttliche Majestät nur ein wenig beleidigt, was du dir aber durchaus nicht einbilden darfst, so bedenke, daß man nur durch die enge Pforte der Trübsale ins Himmelreich eingeht.

Viertens: Selbst wenn du auf einem anderen Weg dahin gelangen könntest, so dürftest du schon um des Gesetzes der Liebe willen nicht einmal daran denken, da doch der Sohn Gottes und all seine geliebten Freunde nur durch Dornen und Kreuze in das Himmelreich eingegangen sind.

Fünftens: Du mußt dir bei dieser und jeder anderen Gelegenheit vor allem den Willen Gottes vor Augen halten, der bei der Liebe, die er zu dir hegt, ein überaus großes Wohlgefallen an jedem Werk der Tugend und Abtötung hat, das du, um seine Liebe zu erwidern, als treuer und hochherziger Streiter vollbringst. Sei auch überzeugt, daß, je unsinniger diese Unbill an sich ist und je unangemessener vonseiten desjenigen, der sie dir zufügt, und je lästiger und schwerer es dir daher fällt, sie zu ertragen, du desto angenehmer dem Herrn sein wirst, wenn du selbst in solchen Dingen, die außer der Ordnung scheinen und dir daher umso bitterer sind, den göttlichen Willen und die Pläne seiner Vorsehung erkennst und liebst, die jedes Ereignis – so widersinnig es scheinen mag - zu einem guten und äußerst vollkommenen Ende zu ordnen und zu lenken weiß.