23. Kapitel

Von anderen Hilfen, unsere Sinne bei den verschiedenen Gelegenheiten zu beherrschen

Wir haben gesehen, wie wir unseren Geist von den sichtbaren Dingen aus zur Betrachtung Gottes und der Geheimnisse des menschgewordenen Wortes erheben können. Nun füge ich noch einige andere Arten von Erwägungen hinzu, damit jede Seele je nach ihrem Geschmack und Bedürfnis reichliche und entsprechende Nahrung findet.

Das wird nicht bloß schlichten Seelen, sondern auch jenen, die sich zur höheren Erkenntnis aufgeschwungen haben und bereits auf dem geistlichen Wege weiter vorangeschritten sind, ebenfalls zum Nutzen gereichen. Denn niemand ist beständig und im gleichen Maße zu den erhabensten Betrachtungen fähig und disponiert.

Übrigens brauchst du aber nicht zu fürchten, durch die Mannigfaltigkeit verwirrt zu werden, sofern du dich an die Regel der Unterscheidung und an den Rat eines andern (deines Seelenführers) hältst, die du nicht nur in diesem Falle, sondern auch in bezug auf alle Winke, die ich dir gebe, in Demut und mit Vertrauen befolgen mußt.

Beim Anblick so vieler reizender Dinge, die dem Auge gefallen und von der Welt so geschätzt werden, bedenke, daß alle überaus armselig und schmutzig im Vergleich zu den himmlischen Reichtümern sind, nach welchen du (die ganze Welt für nichts erachtend) mit ganzer Seele trachten sollst.

Wendest du deinen Blick zur Sonne, dann stelle dir vor, daß deine Seele im Stande der Gnade deines Schöpfers viel leuchtender und herrlicher ist als das Himmelsgestirn; anderseits aber ohne Gottes Gnade viel dunkler und abscheulicher als die höllische Finsternis ist. Erhebst du deine leiblichen Augen zum Himmelsgewölbe, das sich über dir spannt, dann dringe mit deinen Seelenaugen höher hinauf bis zum höchsten Himmel und verweile in Gedanken an dem Orte, der dir zur ewigen und unendlich beseligenden Wohnung bereitet ist, sofern du hier auf Erden in Reinheit und Heiligkeit wandelst.

Hörst du der Vögel Gesang oder andere Weisen, dann erhebe deinen Geist zu den Chören des Himmels, wo ein ewiges Alleluja erschallt, und bitte den Herrn, daß er dich würdige, ihn mit den himmlischen Geistern auf ewig zu loben und zu preisen.

Merkst du, daß irdische Schönheit dich zu umgarnen sucht, dann übersieh nicht, daß die höllische Schlange sich darin verbirgt, darauf bedacht und bereit, dich zu töten oder wenigstens zu verwunden. „O du verfluchte Schlange!" so magst du zu ihr reden, „wie hinterlistig stellst du mir nach, um mich zu verschlingen!" - Und zu Gott gewandt sprich: „Gepriesen seist du, mein Gott, daß du mir den Feind entdeckt und mich vor seinem grimmigen Rachen errettet hast!" - Alsdann flüchte vor der lockenden Gefahr eilig in die Wundmale des Gekreuzigten. Betrachte dieselben und erwäge, wieviel der Herr an seinem heiligsten Leibe erlitten hat, um dich von der Sünde zu erlösen und dir einen tiefen Abscheu wider die Sinnenlust einzuflößen.

Noch an ein anderes Mittel, um der gefährlichen Lockung aus dem Wege zu gehen, erinnere ich, nämlich daß du dich innerlich von dem ernsten Gedanken erfassen läßt, was wohl aus dem Geschöpf nach seinem Tode wird, das dich jetzt mit seiner Schönheit so reizt.

Während du wandelst, erinnere dich daran, daß du mit jedem Schritt dem Tode näher kommst.

Siehst du die Vögel die Luft durcheilen und Wasser dahinfließen, denke daran, daß dein Leben mit noch größerer Schnelligkeit dem Ende zueilt.

Wenn Orkane losbrechen oder Blitze zucken und die Donner rollen, gedenke des schreckvollen Gerichtstages. Beuge anbetend deine Knie und flehe zu Gott, er möge dir Gnade und Zeit schenken, um gut vorbereitet vor seiner höchsten Majestät erscheinen zu können. Bei den verschiedenartigen Ereignissen, die jedem im Leben begegnen, kannst du dich auf ähnliche Weise üben.

Fühlst du dich zum Beispiel von Schmerz und Traurigkeit niedergedrückt oder hast du unter Hitze, Kälte oder einem anderen Ungemach zu leiden, richte deinen Blick empor auf Gottes ewigen Willen, dem es zu deinem Besten gefiel, dich gerade in dem Maße und zu der Zeit diese Trübsal erdulden zu lassen. Erfreue dich deshalb der Liebe, die Gott dir zeigt, und der Gelegenheit, die er dir bietet, ihm zu seinem größeren Wohlgefallen zu dienen, und sprich zu deinem Herzen: „Sieh, so erfüllt sich an mir der Wille Gottes, der von Ewigkeit bestimmte, daß ich jetzt diese Drangsal erleide. Gepriesen sei darum auf ewig mein liebreicher Herr!"

Taucht in deinem Herzen ein guter Gedanke auf, so kehre ihn sogleich zu Gott hin und erkenne mit Dankbarkeit an, daß er von ihm ausging.

Liesest du, dann stelle dir vor, als ob der Herr selbst zu dir sprechen würde, und nimm die Worte auf, wie wenn sie aus seinem göttlichen Munde fließen würden.

Fällt dein Blick auf ein Kruzifix, sieh es als die Standarte deines Kriegsdienstes an. Verläßt du dieselbe, dann gerätst du in die Hände grausamer Feinde; folgst du ihr, dann wirst du mit reicher Siegesbeute in den Himmel einziehen.

Siehst du das liebliche Bild Mariens, der Jungfrau, wende dein Herz zur Königin des Himmels hin und sag' ihr Dank, daß sie Gottes Willen allzeit so treu erfüllte; daß sie den Erlöser der Welt geboren, mit ihrer Milch genährt hat und heranwachsen ließ, und daß in unserem geistlichen Kampfe ihre Gnadenhilfe niemals versagt.

Die Heiligenbilder zeigen dir ebenso viele tapfere Streiter, die ihren Lauf vollendeten und dir den Weg bahnten, den du ebenfalls gehen mußt, um mit ihnen der ewigen Siegeskrone teilhaft zu werden.

Erblickst du eine Kirche, so kannst du unter anderem erwägen, daß deine Seele ein Tempel Gottes ist, den du als seine Wohnung rein und unentweiht erhalten sollst.

Sooft du das dreimalige Glockenzeichen zum „Englischen Gruße" vernimmst, magst du folgende kurze Erwägungen anstellen, die den Worten entsprechen, die man vor jedem Himmelsgruß zu beten pflegt: Beim ersten Zeichen danke Gott für die Botschaft, die er als Anfang unserer Erlösung vom Himmel auf die Erde sandte. Beim zweiten freue dich mit Maria, der Jungfrau, über ihre hohe Würde, zu der sie aus ihrer außerordentlichen und überaus tiefen Demut erhoben wurde. Beim dritten Zeichen bete mit der überglücklichen Mutter und dem Erzengel Gabriel das eben fleischgewordene göttliche Kindlein an.

Vergiß auch nicht bei allen drei Glockenzeichen, namentlich beim letzten, aus Ehrfurcht ein wenig dein Haupt zu neigen.

Diese Erwägungen, auf die drei Glockenzeichen verteilt, eignen sich für jede Zeit des Tages.

Die folgenden Erwägungen verteilen sich auf den Abend, Mittag und Morgen und beziehen sich auf das Leiden des Herrn. Um uns nicht undankbar zu zeigen, sollen wir als ihre grossen Schuldner oftmals der Schmerzen Unserer Lieben Frau gedenken, die sie wegen des Leidens ihres Sohnes erduldet hat.

Am Abend gedenke der Todesangst, die die reinste Jungfrau wegen des blutigen Schweisses, der Gefangennahme und der geheimen Not ihres gebenedeiten Sohnes in jener Nacht erlitt. Am Morgen habe Mitleid mit ihrer Betrübnis, die sie empfand, als ihr Sohn vor Pilatus und Herodes geführt, zum Tode verurteilt und mit dem schweren Kreuze beladen wurde. Am Mittag betrachte mit Andacht das Schwert der Schmerzen, das das Herz der betrübten Mutter bei der Kreuzigung und dem Tode des Herrn und der grausamen Durchbohrung seiner heiligsten Seite durchdrang.

Diese Betrachtungen über die Schmerzen Mariens magst du vom Donnerstagabend bis zum Samstagmittag anstellen; die übrigen an den anderen Tagen. Richte dich aber dabei ganz nach dem frommen Zug deines Herzens und den äußeren Umständen, wie sie sich gerade ergeben.

Nun zum Schluß in aller Kürze, um deine Sinne recht zu beherrschen: Sei allen Dingen, Ereignissen und Vorfällen gegenüber auf der Hut, daß du dich nicht gleich durch Zu- oder Abneigung, die sie in dir erwecken, beeinflussen oder bestimmen läßt. Laß dich nur insofern darauf ein oder lehne sie ab, wie du sie nach dem Willen Gottes ergreifen oder abweisen sollst.

Laß es dir auch gesagt sein, daß ich die obigen Weisungen über die Art, wie du deine Sinne beherrschen sollst, nicht gegeben habe, daß du dich einzig damit beschäftigst. Vielmehr sollst du deinen Geist in beständiger Sammlung auf Gott einstellen und nach seinem Willen durch häufige Tugendakte deine Feinde zu überwinden und deinen sündhaften Trieben durch entgegengesetzte Tugendübungen zu widerstehen trachten. Nur deshalb gab ich dir die bezeichneten Winke, damit du dich klug und vernünftig danach zu richten weißt. Denn, wie du wissen mußt, ist es keineswegs nützlich, sich mit zu vielen Übungen, auch wenn sie noch so vortrefflich sind, zu überladen, weil dadurch gar oft der Geist gehemmt und die Eigenliebe, die Unbeständigkeit und die Nachstellungen des Teufels gefördert werden.