32. Kapitel

Von den hinterlistigen Versuchen des Teufels, uns mittels bereits erworbener Tugenden zu Falle zu bringen

Die arglistige und böse Schlange findet selbst in unseren bereits erworbenen Tugenden ein gutes Mittel, um uns zu überlisten und durch sie zu Falle zu bringen, nämlich dadurch, daß wir ihretwegen an uns Gefallen finden und uns überheben und schließlich dem Laster des Hochmutes und der Ruhmsucht verfallen.

Als Schutz wider diese Gefahr führe deine Kämpfe stets auf dem ebenen und gesicherten Felde einer wahren und tiefen Selbsterkenntnis: Daß du nichts bist, nichts weißt, nichts vermagst, nichts hast als Armseligkeiten und Gebrechen und nichts verdienst als die ewige Verdammnis.

Hast du einmal innerhalb der Grenzen dieser Wahrheit eine feste und gesicherte Stellung bezogen, dann laß dich durch keinen Plan oder irgendeine Rücksicht auch nur einen Fußbreit hinauslocken. Sei überzeugt, es ist alles Mache deiner schlimmsten Feinde, die dich bestimmt verwunden oder sogar töten würden, wenn du in ihre Hände fallen würdest.

Um dich zu einem planmäßigen Vorgehen auf dem genannten Felde der Erkenntnis deiner Armseligkeit zu erziehen, bediene dich folgender Regel:

Sooft du einen prüfenden Blick auf dich und deine Werke richtest, fasse stets nur das ins Auge, was wirklich von dir ist und nicht von Gott und seiner Gnade stammt, und nach dem, was du als dein Ureigen entdeckst, beurteile dich selbst.

Gedenkst du der Zeit, bevor du warst, dann wirst du inne, daß du im tiefen Abgrund der Ewigkeit ein reines Nichts gewesen bist, und daß du nichts fertiggebracht hast, noch tun konntest, um das Dasein zu erhalten.

Läßt du in der Zeit, in der du einzig durch Gottes Güte das Dasein hast, das außer acht, was sein Eigen ist - wie er dich auch beständig durch seine Vorsehung erhält -, was ist denn dein Eigen, als gleichfalls ein Nichts? Zweifellos würdest du sofort in dein ursprüngliches Nichts, aus dem dich seine allmächtige Hand herausgezogen hat, zurückfallen, wenn er dich auch nur für einen Augenblick dir selber überließe.

Es ist demnach völlig einleuchtend, daß du hinsichtlich deines natürlichen Daseins durchaus keinen Grund hast, dich selbst hoch einzuschätzen und die Achtung der Leute zu verlangen, wenn du deine eigenen Verdienste nach objektiven Maßstäben mißt.

Was dann das übernatürliche Leben der Gnade und der guten Werke betrifft, wärst du wohl imstande, mit deinen natürlichen Anlagen und Kräften, frei von aller Hilfe Gottes, aus dir selbst auch nur das geringste Gute und Verdienstliche zu tun? - Ganz gewiß nicht! Anderseits, wenn du die vielen Fehltritte deines vergangenen Lebens und dabei noch das viele Böse in Erwägung ziehst, das du sicher begangen hättest, hätte Gottes mildreiche Hand dich nicht zurückgehalten, dann wirst du finden, daß deine Sünden durch die Menge nicht nur der Tage und Jahre, sondern auch der bösen Handlungen und üblen Gewohnheiten (denn ein Laster zieht das andere nach sich) zu einer fast endlosen Zahl angewachsen wären.

Willst du nicht zum Freibeuter an der Güte Gottes werden, sondern fest mit dem Herrn verbunden bleiben, dann mußt du dich von Tag zu Tag geringer einschätzen.

Sorge dafür, daß dein Urteil, das du über dich selbst fällst, stets der Gerechtigkeit entspricht, sonst könnte es dir sehr zum Schaden gereichen.

Angenommen, du übertriffst durch die Erkenntnis deiner Bosheit einen anderen, der sich in seiner Verblendung wer weiß was einbildet, so machst du dich schließlich schlechter als jener durch die Anstrengungen deines Willens, von den Leuten als das geachtet und behandelt zu werden, was du nach deiner eigenen Überzeugung nicht bist.

Willst du durch die Erkenntnis deiner Bosheit und Armseligkeit deine Feinde von dir fernhalten und dich Gott wohlgefällig machen, dann genügt es keineswegs, daß du dich selbst verachtest und dich alles Guten für unwert und jeden Übels für wert erachtest, sondern du mußt auch die Verachtung vonseiten anderer lieben, die Ehrungen verabscheuen, dich der Beleidigungen erfreuen und gelegentlich gerne Arbeiten verrichten, die andere mit Verachtung verschmähen.

Auf das abfällige Urteil der Leute darfst du durchaus keinen Wert legen, um solche heilsamen Arbeiten zu unterlassen, falls du sie nur in der Absicht, um dich zu verdemütigen und zu ertüchtigen, und nicht aus einem gewissen geistigen Dünkel und schlecht erkannten Hochmut verrichtest, wie man ja bisweilen unter allerlei recht bequemen Vorwänden sich um die Meinung anderer wenig oder gar nicht kümmert.

Wirst du einmal wegen einer guten Eigenschaft, die Gott dir verliehen hat, von den Leuten gern gesehen und gelobt, dann laß dich nicht gehen und weiche kein Tüpfelchen von der eben ausgesprochenen Wahrheit und Ehrlichkeit ab. Wende dich gleich zu Gott und beteuere ihm von Herzen: „Ferne sei es von mir, o Herr, daß ich ein Dieb an deiner Ehre und Gnade werde; dir sei Lob und Preis und Ehre, mir aber Schmach und Schande!" Und zu deinem Lobredner sprich im Herzen: „Wie kommt es, daß jener mich für gut hält, da doch nur Gott und seine Werke gut sind?" Handelst du auf diese Weise und gibst Gott so das Seine, dann hältst du deine Feinde von dir fern und bereitest dich zum Empfang größerer Gnaden und Hulderweise vonseiten Gottes vor.

Bringt dich die Erinnerung an gute Werke in die Gefahr der Selbstgefälligkeit, dann sieh jene geschwind nicht als deine, sondern als Gottes Werke an und, dich gleichsam an sie wendend, sprich in deinem Herzen: „Ich verstehe nicht, wie ihr vor mir erscheint und vor meinen Augen Gestalt angenommen habt, denn nicht ich bin euer Urheber, sondern der allgütige Gott hat euch in seiner Gnade geschaffen, genährt und erhalten. Ihn allein will ich deshalb als euren wahren und eigentlichen Vater anerkennen, ihm Dank sagen und alles Lob dafür spenden."

Ferner bedenke, daß alle deine Werke nicht allein der Erleuchtung und der Gnade, die dir zu ihrer Erkenntnis und Ausführung verliehen worden waren, wenig entsprachen, sondern dazu noch sehr unvollkommen und allzuweit von jener reinen Absicht, Sorgfalt und schuldigem Eifer entfernt waren, von welchen sie hätten begleitet und ausgeführt werden sollen.

Überlegst du das wohl, so hast du mehr Grund zur Scham als zu törichtem Spaß. Denn es ist leider allzu wahr, daß die Gnaden, die wir von Gott rein und vollkommen empfangen, durch unsere Unvollkommenheiten bei ihrem Gebrauch beschmutzt werden.

Weiter vergleiche deine Werke mit denen der Heiligen und anderer Diener Gottes, und bei diesem Vergleich wirst du mit aller Klarheit erkennen, daß deine besten und größten Werke an Gehalt und Wert sehr niedrig stehen.

Vergleichst du sie sodann mit den Werken, die Christus in den Geheimnissen seines Lebens und ständigen Leidens vollbrachte, und betrachtest du sie ohne Rücksicht auf seine göttliche Person ganz für sich allein und nach der Selbstlosigkeit und Lauterkeit seiner Liebe, mit welcher er sie ausführte, dann siehst du, daß alle deine Werke dagegen geradezu ein reines Nichts sind.

Richtest du endlich deine Gedanken auf das Wesen und die unendliche Majestät deines Gottes und auf die ihm gebührende Verehrung, dann merkst du deutlich, daß dir von allen deinen Werken statt Selbstgefälligkeit nichts anderes als Furcht und Schrecken übrigbleiben. Während deines ganzen Lebens und bei all deinem Tun kannst du nur aus ganzem Herzen zu deinem Herrn beten: „Herr, sei mir armen Sünder gnädig! "Auch warne ich dich, die Gnaden, die Gott dir verliehen hat, leichtsinnig zu offenbaren. Fast immer mißfällt dies deinem Herrn, wie er es deutlich in folgender Unterweisung zu erkennen gibt.

Einmal erschien er einer frommen Seele nur wie ein Geschöpf in der Gestalt eines kleinen Kindes. In aller Einfalt bat sie ihn, den Englischen Gruß zu beten, und sogleich begann er: „Gegrüßet seist du, Maria, du bist voll der Gnaden: Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen" - dann hielt er inne, denn er wollte mit den folgenden Worten sein eigenes Lob nicht aussprechen. Als sie ihn bat fortzufahren, verschwand er und ließ seine Dienerin getröstet zurück, da er ihr durch sein Beispiel diese himmlische Lehre kundgetan hatte.

Lerne also auch du dich zu erniedrigen und mit all deinen Werken als das Nichts zu erkennen, das du in der Tat bist. Das ist das Fundament aller anderen Tugenden.

Gerade wie Gott uns, ehe wir waren, aus dem Nichts erschuf, so will er jetzt, da wir durch ihn sind, auf dieser unserer Erkenntnis von unserem Nichts das ganze Gebäude unseres geistlichen Lebens gründen. Und je tiefer wir dieses Fundament legen, umso höher wird der Bau wachsen. Denn in dem Maße, als wir das Erdgeröll unserer Armseligkeiten ausgraben, umso stärkere und festere Steine wird der göttliche Bauherr einfügen, um den Bau gewaltig aufsteigen zu lassen. Bilde dir nicht ein, du könntest in dieser Selbsterniedrigung jemals zu tief gehen; im Gegenteil: Sei überzeugt, deine Armseligkeit wäre abgrundlos, wenn es an einem Geschöpf etwas Unendliches geben könnte.

Haben wir uns eine solche Erkenntnis angeeignet und handeln wir danach, so besitzen wir alles Gute. Ohne dieselbe sind wir noch weniger als nichts, selbst wenn wir die Werke aller Heiligen zusammen verrichteten und ständig mit Gott beschäftigt wären.

O beseligende Erkenntnis, die uns auf Erden beglückt und im Himmel verherrlicht!

O Licht, das aus der Finsternis aufsteigt und der Seele Schönheit und Glanz verleiht!

O verborgenes Kleinod, das aus dem Unrat unserer Armseligkeiten aufleuchtet!

O erkanntes Nichts, das uns zu Herren der Welt macht!

Nie werde ich müde, von ihm zu dir zu sprechen: Willst du Gott loben, so beschuldige dich selbst und wünsche von anderen beschuldigt zu werden. Willst du Gott in dir und dich in ihm erhöhen, so verdemütige dich vor allen und unter alle. Wünschst du ihn zu finden, dann erhöhe dich nicht; denn sonst flieht er.

Erniedrige und verdemütige dich, soviel du es vermagst; dann wird er kommen, um dich heimzusuchen und zu umarmen.

Umso lieber wird er sich dir nahen und mit umso zärtlicherer Liebe dich umfangen, je geringer du dich in deinen eigenen Augen einschätzt und je mehr du von allen Menschen verachtet und wie das verabscheuungswürdigste Geschöpf verworfen zu werden verlangst.

Eines so großen Gnadengeschenkes, daß dein Gott, der deinetwegen mit Schmach überhäuft wurde, sich mit dir vereinen will, halte dich für unwürdig und vergiß nicht, ihm für diesen Hulderweis oftmals zu danken. Fühle dich auch dem gegenüber zu Dank verpflichtet, der dir Anlaß zur Verdemütigung gegeben, namentlich aber jenen gegenüber, die dich mit Füßen traten oder gar glauben, daß du es nur unwillig und ungern littest. Wäre letzteres der Fall, dann laß es dir äußerlich nicht anmerken. Sollten trotz dieser so wahren und wirksamen Erwägungen die Arglist des Teufels, wie auch unsere eigene Unklugheit und Begierlichkeit dennoch in uns übermächtig sein, daß die Gedanken der Selbstüberhebung nicht aufhören, uns zu beunruhigen und unser Herz zu bestürmen, dann ist es noch mehr an der Zeit, uns in unseren Augen umso tiefer zu verdemütigen, als wir aus der Erfahrung wissen, wie wenig wir auf dem Wege des geistlichen Lebens und in der Selbsterkenntnis vorangeschritten sind, da wir uns von derartigen Belästigungen, die ihre Wurzel in unserem törichten Hochmut haben, nicht frei zu machen imstande sind.

Auf diese Weise werden wir aus dem Gift Honig und aus den Wunden Gesundheit gewinnen.