33. Kapitel

Weitere Ratschläge, um die bösen Leidenschaften zu bezwingen und in den Tugenden voranzuschreiten

Soviel ich dir bereits über die Art gesagt habe, wie du dich selbst überwinden und dich mit Tugenden schmücken sollst, so bleibt mir in dieser Beziehung doch noch manches übrig, auf das ich dich aufmerksam machen möchte.

Erstens: Willst du dir wirklich Tugenden aneignen, dann darfst du dich nicht dazu verleiten lassen, die geistlichen Übungen sozusagen nach einem starren Plan auf die einzelnen Tage der Woche zu verteilen, daß du den einen Tag für diese, den anderen für jene Tugend bestimmst.

Die Ordnung im Kampfe und in den Übungen ist vielmehr die, daß du wider jene Leidenschaften, die dir beständig Schaden zufügen und dich immer noch anfallen und schädigen, Krieg führst und dich mit den entgegengesetzten Tugenden in möglichst vollkommenem Grade schmückst.

Hast du dir einmal diese Tugenden erworben, dann wirst du dir auch die übrigen mit Leichtigkeit und ohne viele Übungen schnell aneignen, wenn du die sich darbietenden und nie mangelnden Gelegenheiten gut ausnützest. Die Tugenden sind ja so innig miteinander verkettet, daß, wer eine vollkommen besitzt, auch alle anderen an der Türe des Herzens zum Einzug bereit findet.

Zweitens: Bestimme dir niemals eine Zeit, weder Tage, noch Wochen, noch Jahre für den Erwerb der Tugenden; immer sollst du gleich einem Neugeborenen oder einem neugeworbenen Krieger kämpfen und zur Höhe der Vollkommenheit vorrücken.

Bleibe auch keinen Augenblick stehen, denn wer auf dem Wege der Tugend und der Vollkommenheit innehält, schöpft dadurch keinen neuen Atem und keine neue Kraft, sondern geht rückwärts und wird schwächer als zuvor.

Unter dem Stehenbleiben verstehe ich hier die vorgefaßte Meinung, als hätte man die Tugend bereits vollkommen erworben, infolgedessen man die Gelegenheiten zu neuen Tugendakten und die kleineren Fehler kaum beachtet.

Deshalb sei eifrig und klug darauf bedacht, auch nicht die unbedeutendste Gelegenheit zur Tugend ungenutzt vorübergehen zu lassen.

Ergreife darum gerne jede Gelegenheit zur Tugendübung, namentlich jene, die große Überwindung kostet. Denn jene Akte, die mit mehr Schwierigkeiten verbunden sind, gewähren eine schnellere und tiefer wurzelnde Fertigkeit in der Übung der Tugenden. Wer dir solche Gelegenheiten verschafft, soll dir besonders lieb sein.

Einzig die Gelegenheiten, die in dir Versuchungen zur Sinneslust wecken, sollst du entschieden meiden und möglichst rasch fliehen.

Drittens: Sei vorsichtig und zurückhaltend in bezug auf Tugendübungen, die dem Körper schädlich sein können, wie beispielsweise Kasteiungen durch Geißelungen, Bußgewänder, Fasten, Nachtwachen, überlange Betrachtungen und dergleichen mehr. Damit darf man, wie nachher gesagt wird, nur langsam und mit Maß zu Werke gehen.

Die anderen, durchaus innerlichen Tugenden aber, wie die Liebe zu Gott, Weltverachtung, Selbsterniedrigung, Haß wider die sündhaften Leidenschaften und wider die Sünde, Liebe zur Geduld und Sanftmut, Nächsten- und Feindesliebe soll man sich weder nach und nach aneignen, noch zu ihrer vollen Höhe stufenweise ansteigen, sondern man soll sich bemühen, einen jeden Akt dieser Tugenden sogleich möglichst vollkommen zu vollbringen.

Viertens: Dein ganzes Sinnen, Trachten und Lieben soll auf nichts anderes eingestellt sein als auf den Sieg über die bekämpften Leidenschaften und die Übung der entgegengesetzten Tugenden. Das sei deine einzige Welt: Dein Himmel und deine Erde; das sei dein einziger Schatz und dein Alles, um Gott zu gefallen.

Magst du essen oder fasten, dich abmühen oder ruhen, wachen oder schlafen; magst du zu Hause weilen oder auswärts; magst du der Betrachtung oder der Handarbeit obliegen: Alles sei darauf gerichtet, die bewußte Leidenschaft zu überwinden und zu besiegen und die ihr widerstreitende Tugend zu erlangen.

Fünftens: Sei überhaupt den irdischen Genüssen und Annehmlichkeiten abhold, dann können dich die Laster nur mit geringer Macht angreifen, weil sie alle insgesamt ihre Wurzel in der Sinnlichkeit haben. Ist diese durch unsere Abneigung wider uns selbst unterbunden, verlieren sie auch ihre Stoßkraft und ihren Einfluß.

Wolltest du auf der einen Seite gegen irgendein Laster und eine besondere Leidenschaft Krieg führen und auf der anderen Seite wieder nach den irdischen Genüssen haschen, obwohl sie nicht mit schwerer, aber doch mit leichter Schuld behaftet sind, so würde dein Kampf erbittert und blutig und ein Sieg nur ungewiß und selten sein.

Darum halte die erhabenen, göttlichen Aussprüche stets vor Augen:

„Wer sein Leben liebt, verliert es, und wer sein Leben in dieser Welt haßt, wird es zum ewigen Leben bewahren" (Joh 12,25).

Und: „Brüder, wir sind nicht dem Fleische verpflichtet, um nach dem Fleische zu leben. Denn wenn ihr nach dem Fleische lebt, werdet ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die Werke des Fleisches abtötet, werdet ihr leben" (Rom 8,12-13).

Sechstens bemerke ich noch zum Schluß: Vielleicht wird es gut, ja notwendig sein, wenn du zunächst einmal eine gute Generalbeichte mit all ihren erforderlichen Bedingungen ablegst, um dich der Huld deines Herrn zu versichern, von dem man ja alle Gnaden und den Sieg erwarten muß.