35. Kapitel

Von den Mitteln zur Erlangung der Tugend und ihrem zeitweisen Gebrauch zur Erwerbung einer einzigen Tugend

Zur Erwerbung der Tugenden bedarf es außerdem noch eines hochgesinnten und weiten Herzens und keines schwächlichen und feigen, sondern eines energischen und entschiedenen Willens, der von der festen Überzeugung getragen ist, durch viele Widerwärtigkeiten und Härten vorangehen zu müssen.

Weiter muß man eine ausgeprägte Neigung und Vorliebe für die Tugenden hegen, um sie erlangen zu können. Deshalb erwäge öfters, in welch hohem Maße sie Gott wohlgefällig und wie vortrefflich und ausgezeichnet und für uns so nützlich und notwendig sie sind, da alle Vollkommenheit in ihnen ihren Anfang und ihr Ende nimmt.

An jedem Morgen erwecke den festen Vorsatz, die Gelegenheiten, wie sie sich während des Tages jeweils bieten werden, zur Übung in den Tugenden zu benützen. Im Verlaufe des Tages sollen wir uns erforschen, ob wir den Vorsatz ausführten oder nicht, um ihn dann wieder nachdrücklicher zu erneuern. Dabei berücksichtige man aber vor allem jene Tugend, deren Übung man sich besonders vorgenommen hat.

Ebenso sollen wir die Beispiele der Heiligen, unsere Gebete und Betrachtungen über das Leben Jesu, die zum Fortschritt im geistlichen Leben so ungemein notwendig sind, mit jener Tugend in Beziehung bringen, in der wir uns gerade zu bewähren suchen. Überhaupt müssen wir dies bei allen Anlässen - wie wir es nachher im einzelnen zeigen werden - in die Tat umsetzen, so verschieden dieselben auch untereinander sein mögen.

Sorgen wir dafür, daß die inneren und äußeren Tugendakte uns zur Gewohnheit werden, damit wir sie mit der gleichen Schnelligkeit und Leichtigkeit zu setzen imstande sind, wie wir früher unseren natürlichen Neigungen entsprechend handelten. Und je mehr sie diesen widersprechen, umso schneller wird - wie wir an anderer Stelle (Kap. 33) gesagt haben - die gute Gewohnheit Eingang in unsere Seele finden.

Die erhabenen Worte der Heiligen Schrift haben - mag man sie mit dem Munde aussprechen oder nur in Gedanken wohl erwägen - eine wunderbare Kraft, uns bei der Tugendübung zu helfen. Darum sollen wir immer mit einer Anzahl solcher Stellen, die auf die Tugend, in der wir uns gerade üben, Bezug nehmen, gerüstet sein und sie während des Tages besonders beim Erwachen der widerstreitenden Leidenschaft öfters wiederholen. So können wir uns, wenn wir uns zum Beispiel um die Erlangung der Geduld bemühen, folgender oder ähnlicher Aussprüche bedienen:

„Kinder, ertraget geduldig den Zorn, welcher über euch gekommen ist" (Bar 4, 25).

„Die Geduld der Bedrängten wird nicht auf immer verloren sein" (Ps 9,19).

„Besser ist ein Langmütiger als ein Starker, und wer sein Herz beherrscht, besser als ein Städteeroberer" (Spr 16, 32).

„In eurer Geduld werdet ihr eure Seele besitzen" (Lk 21,19).

„Lasset uns mit geduldiger Ausdauer den uns obliegenden Wettkampf laufen" (Hebr 12,1).

Zum gleichen Zwecke können wir auch folgende oder ähnliche kurze Gebete aussprechen:

„Wann, o mein Gott, wird mein Herz mit dem Schild der Geduld gerüstet sein?"

„Wann werde ich, um meinen Herrn zufriedenzustellen, jede Trübsal mit ruhigem Gemüt erdulden?"

„O überaus glückliche Leiden, die mich meinem für mich leidenden Herrn Jesus ähnlich machen!"

„O einziges Leben meiner Seele, wann werde ich zu deiner Ehre unter tausend Kümmernissen zufrieden sein?"

„O ich Glückseliger, wenn ich inmitten der Trübsale vor Sehnsucht brennen würde, noch mehr zu dulden!"

Solche und ähnliche kurze Gebete, wie sie der Geist der Andacht uns eingibt, sollen wir unserem Fortschritt in der Tugend entsprechend gebrauchen.

Man nennt sie Stoß- oder Schußgebete, weil wir sie gleichsam wie Wurfgeschosse oder Pfeile gen Himmel schleudern. Sie besitzen eine gewaltige Kraft zum eifrigen Voranschreiten in der Tugend und dringen bis ins Herz Gottes, wenn sie von zwei Flügeln getragen sind.

Der eine ist die sichere Überzeugung, daß Gott mit unserer Übung in der Tugend zufrieden ist; und der andere ist das aufrichtige und heiße Verlangen nach der Tugend, einzig, um seiner göttlichen Majestät zu gefallen.