43. Kapitel

Von den Ursachen des freventlichen Urteils und vom Widerstand dagegen

Aus dem früher behandelten Laster der Selbstüberhebung und Selbstgefälligkeit entspringt ein anderes, das uns den größten Schaden zufügt, nämlich das freventliche Urteil, welches wir über den Nächsten fällen, infolgedessen wir ihn gering einschätzen, verachten und ihn seiner Ehre berauben.

So wie dieser Fehler aus dem Hang zum Bösen und dem Hochmut hervorgeht, wird er auch von ihnen genährt und großgezogen, da er durch die unbemerkte Schmeichelei und Irreführung zugleich mit ihnen wächst. Je höher wir uns in unserer Selbstgefälligkeit erheben, umso tiefer schrauben wir unsere gute Meinung vom Nächsten herab, in der Annahme, weit von jenen Unvollkommenheiten entfernt zu sein, die wir bei anderen so gerne als Tatsache vermuten.

Der arglistige Teufel durchschaut aber unsere überaus traurige Seelenverfassung und bemüht sich unermüdlich, unsere Augen zu schärfen und offen zu halten, damit wir umso wachsamer die Fehler des Nächsten beobachten, untersuchen und vergrößern. In unserer Fahrlässigkeit glauben und erkennen wir nicht, wie eifrig er sich anstrengt und bestrebt ist, auch die kleinen Gebrechen von diesem und jenem unserem Gedächtnis einzuprägen, wenn er keine großen entdecken kann.

Da er nun so ruhelos auf deinen Schaden hinarbeitet: Siehe zu, daß du nicht in seine Schlinge gerätst. Sobald er dir irgendeinen Fehltritt deines Nächsten vorhält, kehre deine Gedanken ohne Zögern davon ab; und fühlst du dennoch in dir den Drang, ein Urteil darüber zu fällen: Laß dich nicht dazu verleiten und bedenke, daß es nicht deine Sache ist und du kein Recht dazu besitzt. Und hättest du es auch, so wärst du dennoch nicht in der Lage, dir ein gerechtes Urteil zu bilden, weil du selbst von tausend Leidenschaften umgarnt bist und zu stark dazu neigst, ohne triftigen Grund Böses von anderen zu denken.

Als wirksamstes Gegenmittel empfehle ich dir, dich in Gedanken mehr mit den Anliegen und Nöten deines Herzens zu beschäftigen, dann wirst du immer klarer einsehen, daß du in und mit dir übergenug zu tun und zu arbeiten hast und dir keine Zeit noch Lust übrigbleiben, dich um die Angelegenheiten des Nächsten zu kümmern.

Widmest du dich, wie es sich gehört, mit allem Eifer dieser Arbeit, dann wirst du die schlimmen Anlagen deines Seelenauges immer mehr läutern, aus denen jenes verderbliche Laster hervorgeht.

Sei überzeugt: Denkst du ohne Grund etwas Böses von deinem Bruder, dann steckt eine Wurzel des nämlichen Übels auch in deinem Herzen, das, seiner üblen Verfassung entsprechend, alles Verwandte, das ihm begegnet, in sich aufnimmt.

Kommt es dir in den Sinn, andere wegen eines Fehlers zu verurteilen, richte deine Entrüstung wider dich selbst und, als wärst du mit derselben Schuld behaftet, sprich in deinem Herzen: „Wie sollte ich, Armseliger, der ich in dieselben und in schwerere Sünden verstrickt bin, es wagen, mein Haupt zu erheben, um die Fehler des Nächsten zu beobachten und zu richten?" - Und auf diese Weise werden die Waffen, die gegen andere gerichtet waren und dir Wunden geschlagen hätten, deine Wunden heilen, wenn du sie wider dich selbst wendest.

Ist aber der begangene Fehler deines Nächsten unzweifelhaft und offenkundig, so entschuldige ihn in liebevollem Mitleid und vergiß nicht, daß in deinem Bruder noch Tugenden verborgen sind, zu deren Schutz der Herr seinen Fall zugelassen hat, damit er, zeitweise in diesen Fehlern verstrickt, sich in seinen Augen geringer einschätze und durch die Verachtung der anderen Menschen den Segen der Verdemütigung erlange, sich Gott wohlgefälliger und seinen Gewinn größer mache, als sein Verlust gewesen war.

Ist die Sünde aber nicht nur offenkundig, sondern auch bedeutend und kommt sie aus verhärtetem Herzen, dann eile in Gedanken zu Gottes staunenswerten Gerichten, wo du Menschen erblickst, die früher arge Bösewichte waren und nachher einen hohen Grad der Heiligkeit erlangten, und andere dagegen, die von der Höhe der erhabensten Vollkommenheit, die sie erreicht zu haben schienen, in das elendste Verderben hinabstürzten.

Fürchte und zittere mehr deinetwegen als um eines anderen willen; und sei fest überzeugt, daß alles Gute und Erfreuliche, was du über deinen Nächsten denkst, Wirkung des Heiligen Geistes ist und alle Verachtung, freventliches Urteil und Erbitterung wider ihn aus unserer eigenen Bosheit und von der Einflüsterung des bösen Feindes kommen.

Hätte irgendeine Unvollkommenheit des Nächsten einen unrechten Eindruck auf dich gemacht, dann ruhe nicht eher und gönne deinen Augen keinen Schlaf, bis du ihn mit Gewalt aus dem Herzen ausgemerzt hast.