58. Kapitel

Von der Hingabe seiner selbst

Soll dein Selbstopfer Gott wirklich genehm sein, dann muß es zwei Eigenschaften besitzen.

Erstens muß es in Vereinigung mit der Hingabe Christi an den Vater geschehen, und zweitens muß deine Gesinnung frei von aller Anhänglichkeit an die Geschöpfe sein.

Fürs erste mußt du wissen, daß der Sohn Gottes während seines Lebens im Tale der Tränen nicht bloß sich selbst und seine Handlungen dem himmlischen Vater aufopferte, sondern mit sich selbst auch uns und unsere Werke, weshalb auch unsere Hingabe in Vereinigung mit der Hingabe Christi und mit Vertrauen in sie geschehen soll.

Fürs zweite sieh genau zu, ob deine Gesinnung, bevor du dich Gott anbietest, vollkommen lauter ist; denn wäre dies nicht der Fall, so müßte sie zuerst von jeder Anhänglichkeit befreit werden.

Nimm darum zu Gott deine Zuflucht, damit er dich gnädig befreie und damit du dich, von jedem Geschöpf befreit und ungebunden, seiner göttlichen Majestät rückhaltlos hinzugeben imstande bist.

Dabei mußt du jedoch vorsichtig zu Werke gehen. Bist du einer Kreatur noch verhaftet und willst dich Gott hingeben, so bietest du nämlich nicht dein Eigen, sondern das eines anderen dar, weil du nicht mehr dir selbst, sondern einem Geschöpf gehörst, dem du durch deine Anhänglichkeit verhaftet bist. Und ein solches Opfer mißfällt dem Herrn, da du mit ihm gleichsam deinen Spott zu treiben scheinst.

Deshalb bleiben viele unserer Selbstopfer an Gott nicht nur unnütz und fruchtlos, sondern wir geraten zudem noch in mancherlei Fehler und Sünden.

Obgleich wir noch mit einem Geschöpf verhaftet sind, können wir uns Gott dennoch darbieten, aber nur in der Absicht, daß er uns davon in seiner Güte löse, damit wir uns dann seiner göttlichen Majestät und seinem Dienste rückhaltlos widmen können. Und so sollen wir uns ihm immer wieder mit heißem Verlangen anbieten.

Deine Hingabe sei also frei von jeder Anhänglichkeit und jedem Eigenwillen. Schau darum nicht auf irdischen oder himmlischen Gewinn, sondern einzig und allein auf den Willen und die Pläne Gottes, denen du dich zu immerwährendem Brandopfer unterwerfen und hingeben sollst. Und von aller Kreatur losgeschält sprich: „Sieh, o mein Herr und Schöpfer, ich und alle meine Wünsche sind deinem Willen und deinen ewigen Ratschlüssen unterworfen; tu mit mir, was dir gutdünkt und wohlgefällt, im Leben und im Tode und nach dem Tode, in der Zeit und in der Ewigkeit!"

Ist deine Hingabe tatsächlich aufrichtig gemeint - bei Widerwärtigkeiten wirst du es deutlich erkennen -, dann wirst du aus einem irdischen ein im Geiste des Evangeliums vom Glück begünstigter Kaufmann werden, weil du Gottes Eigen wirst und Gott dein Eigen wird. Denn er ist ja der Anteil derer, die sich von aller Kreatur und von sich selbst gänzlich losschälen und befreien und sich rückhaltlos seiner göttlichen Majestät übergeben und darbieten.

Hier hast du ein überaus wirksames Mittel, um alle deine Feinde zu überwinden. Denn welcher Feind oder welche Macht könnte dir jemals schaden, wenn du durch diese Hingabe mit Gott so vereint bist, daß du ganz sein und er ganz dein ist?

Willst du aber dem Herrn irgendein Opfer darbieten wie beispielsweise Fasten, Gebete, Akte der Geduld oder ein anderes gutes Werk, so erinnere dich der Opfergesinnung, mit welcher Christus sein Fasten, seine Gebete und anderen guten Werke dem Vater darbrachte, und im Vertrauen auf ihren Wert und ihre Verdienste opfere die deinigen auf.

Möchtest du dem himmlischen Vater für deine Sündenschuld die Werke Christi anbieten, so kannst du das auf folgende Weise tun:

Überblickst du deine Sünden im allgemeinen oder faßt du sie auch einzeln ins Auge, so wirst du inne, daß es dir aus eigener Kraft unmöglich ist, den Zorn Gottes zu besänftigen und seiner Gerechtigkeit Genugtuung zu leisten. Nimm deshalb zum Leben und Leiden seines Sohnes Zuflucht, indem du eine seiner Handlungen wie zum Beispiel sein Fasten, Beten, Dulden und Blutvergießen erwägst. Hieraus wirst du ersehen, daß er, um den Vater zu versöhnen und deine Sündenschuld zu sühnen, seine Werke, sein Leiden und sein Blut gleichsam mit den Worten aufopferte:

„Sieh, ewiger Vater, wie ich nach deinem Willen für die Sünden und Fehltritte dieses Menschen deiner Gerechtigkeit überreiche Genugtuung geleistet habe. Deine göttliche Majestät möge ihm gnädig verzeihen und ihn in die Zahl deiner Auserwählten aufnehmen." Biete dem himmlischen Vater dieselbe Opfergabe und Bitte an und flehe ihn an, dir um ihretwillen alle Schuld zu erlassen.

Dies kannst du nicht nur tun, wenn du von einem Geheimnis zum anderen, sondern auch, wenn du von einem Akt eines Geheimnisses zu einem anderen übergehst. Nicht bloß für dich, sondern auch für andere kannst du dich dieser Aufopferung bedienen.