8. Kapitel

Warum wir die Dinge nicht richtig einschätzen und wie wir zur rechten Erkenntnis gelangen können

Der Grund, warum wir die obengenannten Dinge und viele andere nicht richtig erkennen, liegt darin, daß wir uns nach dem ersten Eindruck, den sie in uns erwecken, entweder zur Liebe oder zur Abneigung bestimmen lassen, wodurch unser Verstand beeinflußt wird und infolgedessen über ihren wirklichen Wert nicht richtig urteilt.

Darum sei auf der Hut und halte deinen Willen von jeder ungeordneten Neigung möglichst frei und unabhängig, damit du einer derartigen Täuschung nicht zum Opfer fällst. Begegnet dir irgendeine Sache, so prüfe sie reiflich und besonnen und ohne Voreingenommenheit mit dem Verstande, bevor du dich, je nachdem sie in deinen natürlichen Neigungen Widerwillen oder Vorliebe erweckt, für oder gegen sie beeinflussen und bestimmen läßt.

Auf diese Weise wird der Verstand von keiner Leidenschaft verblendet und umgarnt. Er bleibt unabhängig und ungetrübt, und so vermag er stets das Wahre zu erkennen und sowohl das Böse, das sich hinter einer trügerischen Lust verbirgt, wie auch das Gute, das unter dem Schein des Bösen verdeckt ist, zu entdecken.

Ist aber der Wille bereits von vorneherein zur Liebe oder zur Abneigung bestimmt oder entschlossen, so kann der Verstand die Sache nicht mehr nach ihrem eigentlichen Wert beurteilen, weil diese entstandene Voreingenommenheit ihn derart verblendet, daß er sie für etwas ganz anderes ansieht, als sie in Wirklichkeit ist.

Durch diese falsche Belichtung wird der Wille noch stärker angetrieben, dieselbe wider alle Ordnung und jedes Gesetz der Vernunft entweder zu lieben oder zu verabscheuen.

Infolge dieser stärkeren Willenseinstellung wird der Verstand noch mehr verdunkelt, der dann die Sache dem Willen umso liebenswürdiger oder verabscheuungswürdiger erscheinen läßt.

Wird also die eben angegebene Regel nicht beobachtet, die für die ganze Tugendübung von größter Wichtigkeit ist, dann bewegen sich die beiden so edlen und hervorragenden Seelenkräfte, der Verstand und der Wille, beständig in verkehrtem Kreislauf und geraten infolgedessen in immer dichtere Finsternis und in größere Irrtümer.

Hüte dich also mit aller Sorgfalt vor jeglicher Anhänglichkeit an irgendeine Sache, bevor du sie nicht mit der Leuchte des Verstandes untersucht und nach ihrem wahren Werte erkannt hast. Aber nicht allein mit der Leuchte des Verstandes, sondern vor allem im Lichte des Glaubens und der Gnade und nach dem Urteil deines Seelenführers sollst du den wahren Wert der Dinge zu erkennen trachten.

Diese Ordnung ist ganz besonders bei gewissen äußeren Übungen, die gut und heilig sind, zu beobachten. In solchen liegt die Gefahr näher als in anderen, daß man sich täuscht oder ohne weise Unterscheidung zu Werke geht. Nicht selten können dieselben wegen eines Umstandes der Zeit, des Ortes oder des Maßes, ja mitunter wegen mangelnden Gehorsams sehr großen Schaden verursachen.

Die Erfahrung beweist es ja zur Genüge, wie viele bei den lobenswertesten und heiligsten Übungen zugrunde gegangen sind.