11. Grund: Die Notwendigkeit, sich Gott hinzugeben, ist inbegriffen im Gebet des Herrn.
Jesus Christus hat mit Seinem eigenen Munde das Gebet gelehrt, welches jeder Christ an Gott richten muß, und Er hat darin alle Bitten eingeschlossen, die er stellen muß. Es gibt wenige, welche es nicht zweimal am Tage beten, am Morgen und am Abend. Aber verstehen sie es auch? Sprechen sie es aus dem Grunde des Herzens? Betätigen sie, was es enthält? Es fehlt dies bei den meisten; denn um Verständnis und praktische Verwirklichung dieses Gebetes zu haben, muß man ganz Gott angehören. Kann man Gott mit dem Namen Vater nennen, kann man im Herzen jene Gesinnungen haben, welche dieser Name hervorrufen muß; kann man sich benehmen wie ein Kind sich einem solchen Vater gegenüber benehmen soll, wenn man ihm nicht ganz hingegeben ist?
Erwägen wir recht alle Eigenschaften und alle Rechte dieses Titels eines Vaters, der Gott ist, erwägen wir alle Pflichten, welche uns die Ehrfurcht, die Liebe, die Dankbarkeit, die Abhängigkeit Ihm gegenüber auferlegen: als Seine Geschöpfe, Seine angenommenen Kinder, und urteilen wir dann selber, ob die erste und unerläßlichste Pflicht nicht darin bestehe, Ihm unwiderruflich unser Herz zu schenken. Wir bitten Ihn vor allem, daß Sein Name geheiligt werde, d.h. daß alle Ehre, welche diesem unaussprechlichen Namen gebührt, Ihm erwiesen werde. Und durch wen erwiesen werde? Durch alle vernünftigen Geschöpfe und besonders durch uns. Unser ganzes Leben soll also nichts anderes sein als eine fortgesetzte Heiligung des Namens Gottes, ein fortwährender Wunsch, daß Er geheiligt werde durch andere Menschen. Der Eifer für Seine Ehre muß uns entflammen, muß uns fortwährend verzehren beim Anblick der vielen Beleidigungen, die Ihn verunehren. Die Hingabe unseres Herzens ist das einzige Mittel, das uns in diese Verfassung versetzen kann. Und wenn es so wenige Christen gibt, die in dieser Stimmung sind, so kommt es daher, daß es sehr wenige gibt, die Gott ihr Herz aufrichtig geschenkt haben.
Welches ist im übrigen die Ehre, die Gott von uns erwartet? Daß Er in allem und über alles geliebt werde. Gott, sagt Sankt Augustin, wird nur durch die Liebe geehrt: alle Seine Gebote beziehen sich und zielen auf die Liebe. Und was ist anders Liebe, als die Hingabe des Herzens samt den Folgen dieser Hingabe?
Wir bitten in zweiter Linie, daß Sein Reich zu uns komme. Welches Reich, wenn nicht das der Liebe? Und wo will Gott diese Reich gründen, wenn nicht in unserm Herzen?
Dieses Reich wird vollendet im Himmel: aber es muß seinen Anfang nehmen auf der Erde. Und kann es in jedem von uns anders geschehen, als durch die Hingabe unseres Herzens?
Gott regiert in uns nur, insoweit Er Herr unseres Willens ist. Er herrscht nur dann über alle unsere Liebesneigungen, wenn sie sich zu einer vereinigen, deren Gegenstand Er ist. Sein Reich gründet sich nur auf die Zerstörung der Eigenliebe, die unser Hauptfeind ist. Aber nur indem wir Gott unser Herz ohne Vorbehalt hingeben, fassen wir den wirksamen Entschluß, daraus die Eigenliebe entschieden zu verbannen, teils durch unsere von der Gnade unterstützten Anstrengungen, teils dadurch, daß wir Gott selber die letzten Schläge führen lassen gegen unsern Feind.
Wir bitten endlich, daß der Wille Gottes erfüllt werde wie im Himmel, so auch auf Erden. Heißt das nicht mit andern Worten, Ihn bitten, daß unsere Herzen Ihm so vollkommen angehören wie die der Seligen? Daß Er von uns nicht mehr Widerstand finde als von ihnen, in allem was Ihm gefällt? Daß wir uns mit dem gleichen Eifer, mit dem gleichen Gehorsam, mit der gleichen Uneigennützigkeit der Erfüllung Seines Willens hingeben? Wenn wir nicht diese Gesinnung in der Seele haben, da wir eine solche Bitte stellen, so ist es klar, daß wir die Absicht Jesu Christi nicht erfüllen und daß wir zum himmlischen Vater nicht beten, wie wir beten sollen. Wir sprechen die Worte aus, aber das Herz diktiert sie nicht, und wie könnten sie von Herzen kommen, wenn es nicht ganz Gott hingegeben ist? Diese heiligen Bitten sind Lügen in unserm Munde, sofern wir Gott versagen, was Er von uns verlangt zur Heiligung Seines Namens, zur Gründung Seines Reiches, zur Erfüllung Seines Willens. Erforschen wir uns ernstlich hierüber.