6. Grund: Die Vorschrift, Gott zu lieben, kann nur so erfüllt werden.
Ich bin verpflichtet, Gott zu lieben aus ganzem Herzen, mit meinem ganzen Geiste, mit meiner ganzen Seele, mit allen meinen Kräften. Aber wie kann ich Ihn so lieben, wenn nicht mein ganzes Herz, mein ganzer Geist, meine ganze Seele, alle meine Kräfte Ihm geweiht sind?
Auf welch andere Weise kann ich sie Ihm weihen als durch eine vollkommene Hingabe meiner selbst? Erwäge wohl diesen Grund: er ist klar und entscheidend. Du wirst sehen, daß die Sache anderswie absolut unmöglich ist.
Die Vorschrift, Gott zu lieben, verpflichtet zu zwei Dingen: Das erste ist, jegliche Beleidigung Gottes, große oder kleine, zu vermeiden und sich freiwillig nichts zu erlauben, was im mindesten auf der Welt Ihm mißfallen könnte, sich selbst so viel wie möglich in Acht zu nehmen gegen die leichten Fehler der ersten Bewegung und der Überraschung; das zweite ist, nach seinem Stand und nach den gegebenen Anlässen alle Tugenden zu üben, die Gott von uns verlangt, sich zu bemühen, Ihm in allem zu gefallen und nicht darauf zu achten, was es uns an Anstrengung und Opfern koste Ihm wohlgefällig zu sein. Diese Vorschrift, genommen, wie man sie nehmen muß, in ihrer ganzen Ausdehnung, in Bezug auf alles, was Er verbietet und was Er befiehlt, begreift in sich die Flucht alles Bösen und das Anstreben alles Guten. Aber es ist möglich, im aufrichtigen und beharrlichen Entschlusse, jegliches Übel zu vermeiden und alles Gute anzustreben, fest zu bleiben, ohne sich Gott ganz und unwiderruflich geweiht zu haben? Der Christ soll sich nichts erlauben, was im geringsten die Liebe in ihm schwächen könnte: im Gegenteil muß er alles ergreifen, was geeignet ist, dieselbe zu vermehren. Er ist mehr oder weniger schuldbar, wenn er die Erkaltung Gottes zu ihm veranlaßt; er ist es noch mehr, wenn er durch Nachlässigkeit, Feigheit und Gleichgültigkeit nicht so viel als möglich zum Wachstum einer so kostbaren Freundschaft beiträgt. Darüber ist kein Zweifel. Aber wird er je diese zwei Pflichten erfüllen und wird er sich anders in den Stand setzen, sie zu erfüllen, als durch eine gänzliche und rückhaltslose Hingabe seiner selbst an Gott?
Gott, der allein in uns Seine heilige Liebe niederlegen, der ihr allein Wachstum geben kann, ist gewiß geneigt uns alle Gnaden zu geben, die uns nötig sind zur Bewahrung und Vermehrung des Schatzes der Liebe; aber diese Gnaden, ohne die wir nichts können, gibt Er uns nur in dem Maße, als wir uns Ihm hingeben. Er fängt an; aber wir müssen Ihm antworten, sonst fährt Er nicht weiter. Und wenn wir Ihm gegenüber Zurückhaltung anwenden, nötigen wir Ihn sozusagen, uns gegenüber die Beweise seiner Güte einzuschränken.
Wenn Er durch Seinen Hl. Geist in unsere Herzen die Liebe ausgegossen hat, so ist die erste Wirkung, die Er davon erwartet, die Hingabe unserer selbst.
Er bezeugt uns Seine Liebe nur, um die unsrige hervorzurufen. Und so größer die Beweise sind, die Er uns davon gibt, desto mehr erwartet Er von uns Erwiderung derselben. Es ist also klar, daß Seine Gnaden nur in dem Maße wachsen, als wir es durch unsere Mitwirkung verdienen, und daß unsere Mitwirkung nie vollständig sein wird, wenn unsere Hingabe es nicht ist.
Der Liebe Gottes etwelche Schranken, etwelche Zurückhaltung setzen wollen, heißt, direkt gegen die Natur dieser Liebe arbeiten, die von Seiten ihres Gegenstandes notwendig unendlich ist und die nur beschränkt werden kann durch die begrenzte Befähigung des Herzens, welches liebt. Aber diese Fähigkeit kann immer größer werden. Sie hat kein anderes bestimmtes Maß als das, welches Gott hineinzulegen gefällt, und von meiner Seite kann ich es nicht bestimmen.
Ich muß Gott lieben ohne Maß, d.h. mit aller Fähigkeit meines Herzens, welches sich immer erweitern kann.
Aber ich werde Ihn nie ohne Maß lieben, wenn ich nicht ohne Maß Ihm angehöre; auch nicht mit der ganzen Fähigkeit meines Herzens werde ich Ihn lieben, wenn ich Ihm nicht ganz hingegeben bin.
Wenn es möglich wäre, Gott unendlich zu lieben, wie Er sich selber liebt, so wären wir verpflichtet, Ihn auf diese Weise zu lieben, denn diese Liebe allein entspricht seiner unendlichen Vollkommenheit, und wir sind nur deswegen davon entbunden, weil das nicht in unserer Macht ist. Wir müssen ihn also mit seiner Gnade lieben, so sehr als wir dazu fähig sind und diese Gnade wird uns immer angeboten. So ist es die Absicht Gottes, daß unsere Liebe immer neues Wachstum bekomme und daß wir mit uns nie zufrieden sein sollen, als ob wir Gott genug lieben, denn wir können Ihn jeden Augenblick mehr lieben. Aber was heißt lieben anders, als sich dem Gegenstand der Liebe hingeben? Das eigentümliche der Liebe ist, alles zu geben, was sie geben kann. Sie ist unvollkommen, sobald sie sich etwas vorbehält. Das Herz, das wahrhaft Gott gehört, kann nicht zufrieden sein, wenn es sich die geringste Zurückhaltung vorzuwerfen hat.
Je mehr man den Gegenstand der Liebe Gottes vertieft, um so mehr wird man sich überzeugen, daß die uns auferlegte Pflicht nur erfüllt werden kann, durch die ganze Hingabe unserer selbst. Erst durch diese Hingabe fühlt sich das Herz zufrieden; ohne dieselbe kann es keinen ständigen Genuß an Gott haben, kann keine Süßigkeit, keinen vollkommenen Frieden finden in seinem Dienste.