Kennzeichen der wahren Frömmigkeit.
Von P. Jean Nicholas Grou, SJ
Die wahre Andacht ist Ergebung, Hingabe an Gott im weitesten und vollsten Sinne: Innige Anhänglichkeit und gänzliche freiwillige Abhängigkeit, völlige Bereitwilligkeit des Verstandes und des Willens, sich unbedingt dem Willen Gottes zu unterwerfen, Seinen Wünschen zuvorzukommen und sich gänzlich für Ihn zu opfern.
Der erste und oberste Zweck der Andacht oder der Hingabe an Gott ist: Gottes Verherrlichung und Erfüllung Seines Willens. Der zweite: Die eigene Heiligung. Der Andächtige liebt die Andacht nicht, weil sie seiner Seele göttliche Schönheit und Vollkommenheit gibt, sondern weil sie Gott gefällt; er meidet die Sünde nicht, weil sie seiner Seele Schaden und Abscheulichkeit bringt, sondern weil sie Gott beleidigt; er will selig werden nicht nach eigenem Gefallen, sondern nach Gottes Absicht und Leitung. Der dritte Zweck der Hingabe ist unsere Glückseligkeit und mit ihr unzertrennlich verbunden wie die notwendige Wirkung mit der Ursache. Der wahrhaft Andächtige ringt nach Heiligung nur als einem Mittel, Gott zu verherrlichen, und nimmt seine Glückseligkeit nur als eine Folge der Verherrlichung Gottes. Der gewöhnliche Andächtige macht es nicht so. Der Zweck, den er vorzieht und am meisten beachtet, ist ihm seine Glückseligkeit. Tun, was zur Erreichung der Seligkeit geeignet ist, meiden, was sie gefährden kann, das ist das Maß seiner Heiligkeit, darüber hinaus strebt er nicht leicht. Der Ehre Gottes widerstreben will er nicht, aber gerade für sie handeln, das will er selten. So sind die Zwecke der wahren Andacht verkehrt worden, und daraus entspringen alle Mängel seiner Andacht.
Unter den Eigenschaften der Andacht ist die erste der Geist des Gebetes, die beständige Neigung und das Bestreben der Seele, sich zu Gott zu erheben und sich mit Ihm zu vereinigen. Wer diesen Geist nicht hat, hat noch nicht die wahre Andacht, ob er auch noch so viel betet, aber bloß aus Pflicht, aus Notwendigkeit, aus eigener Bedrängnis, wo es ihm Überwindung, Anstrengung kostet, wo er aus Langeweile das Ende wünscht und Gott so bezahlt, wie ein schlechter Schuldner seinen Gläubiger, dem er am liebsten möglichst wenig schulden und geben will. Das innerliche Gebet ist die Hauptsache; aber man darf doch das mündliche weder vernachlässigen, noch übertreiben. Manche haben all ihre Andacht in den Büchern, keine im Herzen; täglich sprechen sie Gott Gebetsformeln vor, bis sie den Atem verlieren, wodurch sie freilich nicht das Herz erwärmen, sondern nur die Brust austrocknen. Andere behalten alle Formeln bei und setzen immer neue dazu, weshalb sie in Überschleuderung, Zerstreuung, Mißmut, Vernachlässigung ihrer Standespflichten geraten und während der Arbeit immer beten müssen. Bei der Arbeit beten ist allerdings gut; allein es müssen nicht lange zusammenhängende Gebete sein, sonst wird weder die Arbeit, noch das Gebet gut verrichtet. Die Gebete bei der Arbeit sollen kurz sein und vielmehr mit dem Herzen als mit dem Munde verrichtet werden. Durch die große Mannigfaltigkeit der Gebetsarten und Formeln wird nicht das Herz, sondern nur die Einbildungskraft vorübergehend beschäftigt. Die besseren dieser Beter müssen endlich vom Beichtvater erlöst werden von der Überladung; die Eigensinnigen aber wollen von keiner Formel lassen und quälen sich fort ohne Nutzen zum großen Hindernis der wahren Andacht.
Die zweite Eigenschaft der wahren Andacht ist, daß sie von Bedingungen und Vorbehalt frei ist, dem Herrn nichts vorschreibt und Ihm nichts verweigert. Sie überläßt sich der Gnade vollkommen mit verbundenen Augen, entschlossen, so weit zu gehen, wie sie von Ihm geführt wird, und alle Hindernisse dagegen zu überwinden, ihr Schritt für Schritt zu folgen, ohne je zurückzubleiben oder vorauszulaufen.
Das erste Entzücken der erwachenden Liebe läuft gerne davon, legt sich Dinge auf, die über die gegenwärtigen Kräfte hinausgehen, wie der Hl. Bernhard bitter bereute, auf diese Weise seine Gesundheit zerstört zu haben. Aufrichtigkeit und Gehorsam gegen den Beichtvater sind das rechte Mittel dagegen.
Umgekehrt sind aber noch weniger hingegeben an Gott oder andächtig jene, welche mit Gott gleichsam einen Contract schließen, nie weiterzugehen, als es ihnen eben jetzt beliebt.
Die dritte Eigenschaft: Daß die Andacht den ganzen Menschen zu Gott wendet und keine Teilung zwischen Gott und Welt duldet. Und doch wollen gar so viele das Unmögliche tun und beiden - bis auf gewissen Grenzen - angehören, weshalb sie dann Gott gar nicht angehören. Man will von der Welt nur das offenbar Sündhafte meiden: Die Wollust. Aber man ist Sklave des Eigennutzes und falschen Glückes, strebt für sich und die Seinen nach allem, was erhebt und auszeichnet, obgleich es vom Evangelium verworfen wird. Endlich muß man es, gleich allen wahren Jüngern Jesu, gar nicht übel nehmen, daß man uns lieblos behandelt, tadelt, verachtet, verleumdet, verfolgt. Denn dies würde bedeuten, die Welt selbst zu achten und zu bewundern.
Vierte Eigenschaft: Der wahrhaft Andächtige ist nicht zufrieden immer im Stande der Gnade zu handeln, sondern trachtet immer aus Antrieb der Gnade zu handeln, gerade so, wie der Weise nicht bloß im Stande der Vernunft, sondern aus Antrieb und Leitung der Vernunft handelt. Wo das nicht ist, bist du noch kein wahrhafter Andächtiger, wenn du auch täglich unzählige schöne Andachtsformeln betest.
Fünfte Eigenschaft: Die Andacht entspringt ganz aus der Liebe, ja sie ist eigentlich nichts anderes, als die werktätige Liebe Gottes. Wie die Liebe, so vertreibt auch die Andacht die Furcht, die ihr entgegengesetzt ist, weil die Andacht ganz aus der Liebe Gottes, die Furcht ganz aus der Eigenliebe entsteht. Jene Seelen, die Gott dienen aus Furcht verloren zu gehen, sind nicht wahrhaft andächtig, nicht Gott, sondern dem Eigennutz sind sie ergeben. Sie fliehen die Sünde, nicht weil sie Gott beleidigt, sondern weil sie von Gott bestraft wird. Jedoch darf man mit dieser niedrigen Furcht des Knechtsinns nicht den Schrecken verwechseln, der aus der Einbildungskraft entsteht bei den Gedanken an die Hölle, noch viel weniger die kindliche Furcht, die fürchtet, Gott zu beleidigen, viel mehr als von Gott bestraft zu werden. Und statt der Furcht, verloren zu gehen, setzen wir die Furcht, Gott zu verlieren; statt des eigennützigen Verlangens selig zu werden, setzen wir das Verlangen, Gott zu besitzen.
Sechste Eigenschaft: Die Andacht ist voll des Vertrauens auf Gott. Wirf dich in Gottes Arme; Er wird sie nicht zurückziehen und dich fallen lassen. (St. Augustin) Wohl scheint Er sie manchmal zurückzuziehen, allein es ist nicht wahr und Er gibt sich den Anschein nur, um diese in der für die wahre Andacht notwendigen Tugend zu prüfen und den Lohn zu mehren. Durch das Vertrauen wird Gott am meisten geehrt, und deshalb prüft Er es bei großmütigen Seelen auf das äußerste. Es hält die rechte Mitte zwischen den zwei entgegengesetzten Lastern, die beide aus der Eigenliebe entspringen: der Vermessenheit, weil man auf sich zu viel rechnet, und der Kleinmütigkeit, weil man nicht auf Gott, sondern auf sich gestützt fühlt, daß diese Stütze keinen Halt gewährt.
Nichts ist so notwendig wie das Vertrauen und nichts prüft Gott so sehr: Er verhüllt uns ganz die Augen, führt uns scheinbar vom Wege ab, daß man weder die Richtung mehr weiß noch einen Boden unter den Füßen merkt, und wollen wir über unseren inneren Zustand eine Gewißheit, so überläßt Er uns der peinvollsten Verwirrung. Warum? Uns zu zwingen, die Selbstleitung aufzugeben und uns gänzlich Ihm zu überlassen. „Wenn er auch mich tötet, werde ich dennoch auf ihn hoffen.“ (Job 13,15).
Siebente Eigenschaft: Die wahre Andacht wandelt auf den einfachsten gewöhnlichsten Wegen. Was am wenigsten Aufsehen macht, zieht sie allen anderen vor, wie ein stilles Veilchen, das es liebt, unter dem Grase verborgen zu duften und sich ungesehen zertreten zu lassen. Sie ehrt jenen, an dem Gottes Gaben offenbar werden und wählt für sich Verachtung, Verborgenheit oder das Bekanntsein bloß durch ihre Mängel. Solche wahre Andächtige gibt es wenige, und es scheinen noch weniger zu sein, eben weil sie verborgen bleiben. Bei den meisten übrigen, sogenannten Andächtigen, sieht man etwas Ungewöhnliches, Ziererei, Schaustellung, Besonderheit in Mienen, Haltung, Benehmen, Sprache, Kleidung, Bestreben zu einer besonderen Art von Betrachtung, worin sie ein Spielball der Phantasie werden und Dinge haben wollen, die nur für sie, nicht für die übrigen Gläubigen sind. Ich sage nicht, daß alle diese Heuchler sind und daß alle diese Züge ihnen allen zukommen, aber wenige gibt es, die die Andacht auf Demut gründen, auf wahre Demut, und die sich von dem feinsten und gefährlichsten Laster, dem Stolze, sichern. Der wahre Prüfstein der Andacht ist die Liebe zu den Demütigen! Jener ist der wahre Jünger Jesu Christi, der nichts tut, sich den Demütigungen zu entziehen, dem es lieb ist, daß man seine Fehler kenne, seine Mängel ihm vorwerfe, seine Tugend herabsetze, seinen guten Namen anschwärze und sich zu seiner Rechtfertigung kein einziges Wort gegen das Wohlgefallen Gottes erlaubt.
Achte Eigenschaft: Während so der wahrhaft Andächtige durch die Demut den Hauptzweig der Abtötung übt gegen die Selbstschätzung und gegen die Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit, übt er zugleich die zwei anderen Zweige der Abtötung: gegen die unordentliche Zuneigung zum Fleische und die Neigung, seinen eigenen Willen zu tun. Denn Gott verlangt vom Andächtigen ganz besonders die Abtötung und wirkt mit ihm, während Er selbst im Andächtigen den Gebetsgeist wirkt und der Andächtige mit Gott mitwirkt. Beides wird von Gott und Mensch gemeinsam gewirkt, aber im Gebete wirkt Gottes Tätigkeit vor, in der Abtötung die des Menschen. In der äußeren Abtötung sucht der Andächtige nie etwas bloß zur Befriedigung der Sinne, ohne höheren Zweck, wenn es auch sonst ganz unschuldig ist; und was die Bedürfnisse des Leibes verlangen, hält er in den Grenzen des Bedarfs und heiligt es durch die gute Absicht. Keine Grenzen aber hat die innere Abtötung; denn andächtig sein heißt an Gott hingegeben sein, also keinen anderen Willen haben, als den Willen Gottes und auf jeden Willen Gottes eingehen und ihn unterstützen. Aber man warte in Frieden, bis Gott seine Forderungen stellt, und ängstige sich nicht selbst mit Einbildung über Dinge, die vielleicht gar nie kommen werden.
Neunte Eigenschaft: Die Andacht ist gelehrig, hält an ihren Begriffen nicht fest gegenüber dem Worte ihrer rechtmäßigen Führer, unterwirft diesen ihre eigenen Worte, selbst ihre eigene Überzeugung, hält gegen deren Willen an keiner Überzeugung fest, auch nicht an der liebsten, ändert in ihrer gewöhnlichen Lebensweise nichts, ohne gefragt und die Zustimmung erlangt zu haben, richtet sich nicht selbst, weder im Guten, um nicht eitel, noch im Bösen, um nicht mutlos zu werden, weil sie weiß, daß es demütiger und sicherer ist, sich nicht selbst zu beurteilen, sondern sich in allem den Führern zu überlassen, mögen sie billigen oder mißbilligen.
Sie mischt sich unberufen in nichts, will sich nicht überall hervortun, als ob nichts Rechtes geschehen könnte, was sie nicht leitet, sie donnert nicht immer mit Bitterkeit gegen die Mißbräuche, wenn sie wirklich bestehen, sondern duldet sie, wenn sie nicht zur Verbesserung berufen ist, und bittet Gott im Stillen, er möge ihnen Einhalt tun.
Sie ist feind aller Parteisucht, allen Ränken; noch weniger macht sie Umtriebe, um einen Prediger, Beichtvater, Seelenführer in Ansehen zu bringen, indem sie andere erniedrigt. Die Parteisucht ist Kennzeichen der falschen Frömmigkeit.
Zehnte Eigenschaft: Die wahre Andacht ist endlich rein, einfach, gerade. Das alles ist Eins und bezieht sich auf die Absicht, von der aller Wert der anderen abhängt. Die Reinheit der Absicht ist das Streben einzig auf Gott, fern von jeder Rücksicht auf sich selbst. Ist die Absicht nicht rein, so ist sie nicht schon deshalb auch böse, aber jedenfalls nicht vollkommen. Um also die Absicht zu reinigen, muß man sehr darauf achthaben, und nicht bloß den bösen, sondern auch den unvollkommenen Absichten den Eingang wehren. Das Unvollkommene der Absicht aber erkennen wir nur, wenn wir in der Selbsterforschung fortschreiten und in göttlicher Erleuchtung zunehmen. Die Erleuchtung mehrt Gott nur langsam, wenn Er sieht, daß wir davon guten Gebrauch machen; Er richtet sie ein nach unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und nach dem Grade der Reinheit, die Er von uns fordert. Durch sie erkennt man dann in seinen Absichten Unvollkommenheiten, an die man sonst gar nie gedacht hätte und die Gott selbst uns verborgen hat. Denn welcher Anfänger könnte den Anblick seiner Handlungen ertragen, auch die besten, wenn Gott sie zeigen würde, so, wie Er sie sieht? Er würde gänzlich entmutigt. Man braucht sich also mit der Erforschung seiner Absicht nicht ängstlich zu quälen, sondern bloß die Erleuchtung zu benutzen, die Gott gibt. Die Reinheit der Absicht ist das Maß der Heiligkeit, angemessen dem Grade der Erleuchtung, die Gott uns gibt, und der Treue, die wir haben. In der Tat betrachtet Gott nicht unsere Handlungen an sich, sondern ihre Beweggründe, von denen sie ihr ganzes Verdienst bekommen.
Die Einfalt und die Geradheit ist ein und dasselbe, wie die Reinheit der Absicht. Die Seele ist einfältig, wenn sie nur einer Richtschnur folgt, gerade, wenn sie immer in gerader Linie, auf dem kürzesten Wege nach dem Mittelpunkt strebt. Sie weicht aber davon ab, wenn sie, statt auf Gott zu streben, sich auf sich selbst zurückwendet und zurückkommt, dadurch verliert sie die vollkommene Geradheit, obgleich die Geradheit erst in der Todsünde gänzlich verloren geht.