Akta Pilatus (Protokoll von Pontius Pilatus an den Kaiser in Rom):

 

Edler Herrscher, Gruß!

Die Vorfälle letzter Tage in meiner Provinz waren solcher Art, dass ich dachte, die Einzelheiten zu berichten, wie sie sich zutrugen. Ich würde nicht überrascht sein, wenn die Ereignisse im Laufe der Zeit das Schicksal unserer Nation ändern würden. Es scheint, als ob die Götter kürzlich aufhörten, uns gnädig zu sein. Beinahe bin ich versucht zu sagen, verflucht sei der Tag, an dem ich Valerius Flaus in der Regierung Gelingen gab.

Bei meiner Ankunft in Jerusalem nahm ich Besitz vom Prätorium und ließ ein königliches Mahl bereiten, zu welchem ich die Vornehmen in Judäa, den Hohen Priester und sein Gefolge einlud. Zur festgesetzten Stunde erschien aber nicht einer der Geladenen. Dies war eine Beschimpfung meiner Würde. Nach einigen Tagen geruhte der Hohe Priester, mir einen Besuch zu machen. Sein Benehmen war freilich ernst aber höhnisch. Er gab vor, dass es ihm und seinen Leuten verboten sei, aus religiösen Gründen, am Tische eines Römers zu sitzen. Ich hielt es für schicklich, seine Entschuldigung anzunehmen, doch war ich von diesem Augenblick an überzeugt, dass sich die Besiegten als Feinde der Eroberer erklärten. Es scheint mir, dass von allen eroberten Städten Jerusalem am schwierigsten zu regieren ist. Das Volk war so unruhig, dass ich jeden Augenblick einen Aufstand befürchtete. Denselben zu unterdrücken, hatte ich nur ein einziges Gentorium, eine Hand voll alter Soldaten.

Ich ersuchte den Präfekten von Syrien um Verstärkung, doch teilte er mir mit, dass er selbst schwerlich genügend Truppen hätte, um seine eigene Provinz zu verteidigen. Ein nicht zu stillender Durst nach Eroberungen und Ausbreitung unseres Kaiserreiches, und das Unvermögen, die eroberten Gebiete auch dann zu behaupten und zu verteidigen, bedeutet, wie ich fürchte, den Sturz unserer edlen Regierung.

Unter den verschiedenen Gerüchten, die mir zu Ohren kamen, erweckte namentlich eines meine Aufmerksamkeit: Ein junger Mann - wurde mir gesagt - erschien in Galiläa und predigte in vornehmer Ausdrucksweise eine neue Lehre, indem er vorgab, dass Gott ihn gesandt habe. Zuerst war ich beunruhigt, dass seine Predigt das Volk gegen die Römer aufhetzt, aber bald verlor ich die Befürchtung; denn Jesus von Nazareth sprach eher als ein Freund der Römer als der Juden.

Als ich eines Tages beim Platz von Sila vorbeiging, sah ich daselbst ein großes Gedränge von Menschen. Ich entdeckte in der Mitte einer Gruppe einen jungen Mann, der gegen einen Baum sich lehnend, ruhig und sanft zur Menge sprach. Es wurde mir gesagt, dies wäre Jesus von Nazareth. Das konnte ich auch leicht genug erraten, so groß war der Unterschied zwischen ihm und seinen Zuhörern. Ein goldenfarbiges Haar gab seiner Erscheinung ein himmlisches Aussehen. Er schien ungefähr 30 Jahre alt zu sein; und nie sah ich so süße, ruhige, heitere Gesichtszüge. Welch ein großer Unterschied zwischen ihm und seinen Zuhörern mit ihren schwarzen Bärten und gebräunter Haut.

Nicht willens, ihn durch meine Gegenwart zu stören, ging ich meines Weges, bedeutete aber meinem Sekretär, sich der Gruppe anzuschließen und zu horchen. Mein Sekretär hieß Maultius (Malchus!?). Er war ein Enkel des Haupt-Verschwörers, welcher in Etruria lagerte, Cataline erwartend. Maultius war ein langjähriger Einwohner Judäas und kannte die hebräische Sprache wohl. Er war mir ergeben und meines Vertrauens würdig. Ins Prätorium eintretend, traf ich Maultius, der mir die Rede wiederholte, welche Jesus bei Sila gehalten hatte. Hier habe ich in den Philosophen etwas gelesen, was sich mit den Grundsätzen vergleichen ließe. Einer der zahlreichen aufrührerischen Juden in Jerusalem fragte ihn, ob es gesetzlich richtig sei, dem Kaiser Tribut zu geben. Jesus antwortete: "Gib dem Kaiser, was dem Kaiser gehört und Gott, was Gott gehört!"

Es war in Anbetracht seiner Weisheit, die seine Reden auszeichnete, dass ich dem Nazarener so viel Freiheit gewährte. Es lag in meiner Macht, ihn zu verhaften und nach Pontius zu verbannen, aber dies wäre ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit gewesen, welche die Römer immer respektiert haben. Dieser Mann war weder ein Aufständischer noch ein Verführer; ich gewährte ihm daher Gunst und Schutz, vielleicht ohne sein Wissen. Er hatte Freiheit, zu sprechen, zu handeln, Versammlungen abzuhalten, aus dem Volk Schüler zu erwählen, unbeschränkt durch irgendeine gräterianische Verweisung. Sollte es jemals geschehen, sage ich, dass die Religion unserer Väter von der Religion des Jesus verdrängt werden würde, was die Götter verhindern mögen, so wird es auf Grund dieser edlen Duldung sein, dass Rom ihre früheste Entwicklung förderte, während ich elende Kreatur das Werk dessen war, was die Hebräer Vorsehung nennen und wir Schicksal; aber diese unbedingte Freiheit reizte die Juden, zwar nicht die Armen, aber die Reichen und Mächtigen, gegen die auch Jesus streng auftrat. Es geschah meiner Meinung nach aus politischen Gründen, dass ich die Freiheit des Nazareners nicht beschränkte. "Schriftgelehrte und Pharisäer", würde er sagen, "ihr seid eine Brut von Vipern, ihr gleicht gemaltem Gerüst". Zum anderen Male würde er hohnlächelnd über die Almosen der Angesehenen sagen, dass die kleine Gabe der Witwe viel köstlicher sei in den Augen Gottes.

Täglich wurden neue Beschwerden über erlittene Beschimpfungen durch Jesus im Prätorium vorgebracht. Ebenso wurde ich benachrichtigt, dass ihm ein Unglück widerfahren könnte, nachdem es nicht das erste Mal wäre, dass Jerusalem diejenigen steinige, welche sich Propheten nannten, und wenn das Prätorium Gerechtigkeit verweigere, beim Kaiser Beschwerden eingereicht würden. Trotzdem wurde meine Haltung durch den Senat gutgeheißen, und mir nach Beendigung des persischen Krieges Verstärkung versprochen.

Zu schwach, einen Aufstand niederzuwerfen, entschloss ich mich, Maßnahmen zu treffen, welche die Ruhe in der Stadt wieder herzustellen versprachen, ohne das Prätorium einer entwürdigenden Schwäche oder Nachgiebigkeit auszusetzen. Ich erbat von Jesus schriftlich eine Unterredung im Prätorium. Er kam. In meinen Adern fließt spanisches Blut, gemischt mit römischem; und so bin ich unfähig, kindische Gemütsbewegung oder Furcht zu empfinden. Als aber der Nazarener kam, während ich im Baselik wandelte, schienen meine Füße wie mit einer eisernen Hand auf das Marmorpflaster gehaftet und ich zitterte an allen Gliedern wie ein schuldiger Verbrecher, während Er ruhig und sanft war, wie die Unschuld.

Jesus kam mir nahe und mit einer Gebärde schien er mir zu sagen: "Ich bin hier". Eine Weile betrachtete ich mit Bewunderung und Ehrfurcht dieses schöne Bild eines Mannes, unbekannt unseren vielen Malern, welche unseren Göttern Form und Gestalt gaben. "Jesus" sagte ich endlich und meine Zunge stammelte, "ich habe Dir die letzten drei Jahre unbegrenzte Freiheit der Rede zugestanden und bereue es nicht. Deine Worte sind wie die eines Weisen, ich weiß nicht, ob Du entweder Sokrates oder Plato gelesen hast. Aber soviel will ich wissen, dass in Deinen Gesprächen majestätische Einfachheit liegt, welche Dich weit über die Philosophen erhebt. Der Kaiser ist davon unterrichtet; und ich, sein geringer Diener in diesem Lande, bin glücklich. Dir diese Freiheit gewährt zu haben, welcher Du würdig bist.

Dennoch darf ich Dir nicht verhehlen, dass Dir durch Deine Reden mächtige, eingefleischte Feinde erwachsen sind, was nicht überraschend ist. Sokrates hatte seine Feinde, und er fiel als Opfer ihres Hasses. Die Deinigen sind doppelt erbittert gegen Dich, wegen Deiner Reden gegen sie; über mich sind diese böse wegen der Dir gewährten ausgedehnten Freiheit. Diese klagen mich an, mit Dir in geheimer Verbindung zu stehen, zum Zwecke, die Hebräer ihrer kleinen Rechte zu berauben, welche Rom ihnen noch gelassen. Meine Bitte - ich sage nicht Befehl - ist, dass Du in Zukunft umsichtiger sein möchtest und milder, hinsichtlich der Erweckung des Stolzes Deiner Feinde. Zuletzt wiegeln sie die dumme Bevölkerung gegen Dich auf und zwingen mich, die Werkzeuge des Richters anzunehmen."

Der Nazarener erwiderte mir ruhig: "Fürst der Erde, Deine Worte sind nicht von wahrer Weisheit. Sage zum Sturzbach, stehe still inmitten deiner Bergheimat, damit du doch nicht die Bäume deines Tales entwurzelst. Der Sturzbach wird dir antworten, dass er den Gesetzen des Schöpfers folgen muss. Gott allein weiß, wohin der Sturzbach fließt. Wahrlich, ich sage dir, bevor die Rose von Saron blüht, soll das Blut vergossen sein."

„Dein Blut soll nicht vergossen werden", antwortete ich mit Gemütsbewegung, "Du bist kostbarer in meiner Hochachtung wegen Deiner Weisheit, als alle die rebellischen und stolzen Pharisäer, welche die Freiheit missbrauchen, welche die Römer ihnen beließen, und die sich verschwören gegen den Kaiser und unsere Güte als Furcht auslegen. Die frechen Schufte sind es nicht gewahr, dass der Wolf des Tiberia sich zuweilen in Schafspelz kleidet. Ich werde Dich schützen gegen sie. Mein Prätorium ist Dir als Zufluchtsort offen. Es ist ein geheiligter Ort.“

Jesus schüttelte sorglos sein Haupt und sagte mit einer Anmut und göttlichem Lächeln: "Wenn dieser Tag kommen wird, dann ist keine Stätte für den Sohn des Menschen, weder auf noch unter der Erde. Die Zuflucht des Gerechten ist dort oben", indem er zum Himmel zeigte, "das, was in den Büchern der Propheten steht, muss erfüllt werden."

"Junger Mann", sagte ich mild, "Du nötigst mich, meine Bitte in einen Befehl zu kleiden; die Sicherheit der Provinz, welche meiner Hut anvertraut ist, erfordert es. Du musst mehr Mäßigung beachten in Deiner Rede. Übertritt nicht meine Befehle, die Du kennst. Möge das Glück Dich behüten. Lebe wohl!"

"Fürst der Erde", erwiderte Jesus, "ich bin gekommen, nicht um Krieg auf die Erde zu bringen, sondern Frieden, Liebe und Wohlfahrt. Ich bin am selbigen Tag geboren, an welchem Augustus Cäsar der Welt römischen Frieden gab. Verfolgung kommt nicht von Dir, ich erwarte sie von anderen, und werde ihr begegnen im Gehorsam nach dem Willen meines Vaters, welcher mir den Weg gezeigt hat. Halte daher deine weltliche Klugheit zurück Es ist nicht in deiner Macht, das Opfer an den Schwellen des Tempels der Versöhnung zu verhaften." Dies sagend, verschwand Er wie ein leuchtender Schatten hinter den Vorhängen des Baselik.

Die Feinde Jesu gelangten bald darauf mit einer Atrasse zu Herodes, welcher derzeit in Galiläa regierte, um sich Rache zu verschaffen an dem Nazarener. Wäre Herodes seiner eigenen Meinung gefolgt, so hätte er Jesus sofort hinrichten lassen. Aber stolz auf seine königliche Würde, fürchtete er sich, eine Tat zu begehen, welche sein Ansehen beim Senat vermindern könnte.

Herodes kam eines Tages zu mir ins Prätorium. Und sich nach unbedeutender Unterredung anschickend zu gehen, fragte er mich, was meine Meinung über Jesus sei. Ich erwiderte, dass mir Jesus als einer der größten Propheten erschien, welches große Nationen zu vielen bezeugen, dass seine Lehren keineswegs gotteslästerlich wären und die Absicht Roms wäre, ihm volle Redefreiheit zu lassen, was seine Handlungsweisen auch rechtfertigen.

Das große Fest der Juden war nahe, und es war beabsichtigt, sich diese Gelegenheit zu Nutze zu ziehen, bei dem allgemeinen Frohlocken, welche sich immer bei der Feierlichkeit eines Passahfestes zeigte. Die Stadt war erfüllt mit einer Menge, welche den Tod des Nazareners verlangte. Meine Kundschafter berichteten mir, um das Volk zu bestechen. Die Gefahr wurde drückend. Ich schrieb dem Präfekten von Syrien, mir hundert Fußtruppen und ebenso viele Berittene zu schicken, doch er lehnte es ab. Ich sah mich selbst mit einer Hand voll Veteranen zu schwach, um den Aufruhr zu unterdrücken, und keine Wahl blieb mir übrig, als sie gewähren zu lassen.

Sie brachten Jesus gefangen und der aufrührerische Pöbel, vom Prätorium nichts fürchtend, glaubte mit seinem Führer, dass ich seinem Winke gehorchte und brüllte immerfort: "Kreuzige, kreuzige ihn!" Drei mächtige Parteien hatten sich gegen Jesus vereint, erstens die Herodianer, dann die Sadduzäer, deren aufrührerische Haltung aus doppelten Beweggründen entsprang. Sie hassten den Nazarener und sind des römischen Jochs überdrüssig. Sie konnten mir nicht verzeihen, dass ich in die heilige Stadt einzog mit Bannern, welche das römische Wappen trugen, und obgleich ich in dieser Beziehung einen fatalen Fehler beging, erschien ihnen die Gotteslästerung weit weniger abscheulich. Ein anderer Groll war in ihren Busen entzündet. Ich schlug nämlich vor, einen Teil des Tempelschatzes für das allgemeine Wohl, zur Errichtung von Gebäuden zu verwenden. Mein Vorschlag machte finstere Gesichter.

Die dritte Partei, die Pharisäer, waren die erklärten Feinde Jesu. Sie trugen mit Bitterkeit die strengen Vorwürfe, welche der Nazarener drei Jahre gegen sie plauderte, wo immer er Gelegenheit hatte. Zu schwach und feige, selbst zu handeln, enthielten sie sich der Streitereien der Sadduzäer und Herodianer.

Neben diesen drei Parteien hatte ich gegen die gewissenlose und ruchlose Bevölkerung zu kämpfen, welche immer bereit ist, sich eines Aufstandes zu bedienen, um aus Unordnung und Verwirrung zu gewinnen.

Jesus wurde vor den Hohen Priester geschleppt und zum Tode verurteilt. Es geschah dann, dass der Hohe Priester Kaiphas seine spottenden Handlungen von Unterwürfigkeit ausführte. Er sandte seinen Gefangenen zu mir, sein Urteil zu bestätigen und die Hinrichtung zu erwirken. Ich antwortete ihm, dass, weil Jesus ein Galiläer sei, die Angelegenheit vor des Herodes Gerichtsbarkeit gehöre. Der listige Schleicher heuchelte Unterwürfigkeit und ziehe es vor, die Sache dem Statthalter des Kaisers zu überlassen. Er übergab also das Schicksal des armen Menschen in meine Hand.

Bald hatte der Palast das Aussehen einer belagerten Burg. Jeden Augenblick nahm die Zahl der Aufständischen zu. Jerusalem war überflutet mit Volkshaufen aus den Gebirgen und von Nazareth. Ganz Judäa schien in die Stadt zu strömen. Ich hatte ein Weib genommen, ein Mädchen von den Gaula, welches sagte, es könne in die Zukunft sehen. Weinend warf es sich mir zu Füßen und schrie: "Hüte dich, sieh zu, überführe den Menschen nicht, denn er ist heilig. Letzte Nacht sah ich ihn in einer Vision. Er ging auf den Wassern, er flog auf den Flügeln des Windes, er sprach zum Ungewitter, Zischen des Sees; alles war ihm Untertan und gehorchte ihm. Der Gießbach am Berge Gidron fließt mit Blut, die Standbilder des Kaisers sind in Dunkel gehüllt, die Säulen des Interiums sind gewichen und die Sonne ist in Trauer gehüllt, wie eine Vestale in der Gruft. O Pilatus, Übles erwartet dich, wenn du nicht auf das Bitten deines Weibes hörst. Drohe mit dem Fluche des römischen Senats und mit den Streitkräften des Kaisers".

Während das Weib sprach, ächzte die Marmortreppe unter dem Gewichte der Menschenmenge. Der Nazarener wurde mir zurückgebracht. Ich ging, gefolgt von meiner Garde, nach der Gerichtshalle und fragte das Volk im strengen Ton: "Was ist euer Begehr?" Antwort: "Der Tod des Nazareners!" "Für welches Verbrechen?" "Er hat Gott gelästert, er hat den Untergang des Tempels prophezeit und nennt sich selbst den Sohn Gottes, Messias, König der Juden". Hierauf erwiderte ich: "Hierauf bestraft das römische Recht nicht mit dem Tode wegen dieser Beschuldigung". Aber "kreuzige ihn, kreuzige ihn!" brüllte der unnachgiebige Pöbel.

Das Geschrei der sinnlosen Menschen erschütterte den Palast bis auf die Grundfesten. Da war nur einer, welcher ruhig schien in der großen Menge, es war der Nazarener. Nach vielen fruchtlosen Versuchen, ihn vor der Wut der erbarmungslosen Verfolger zu schützen, ergriff ich in diesem Augenblick eine Maßnahme, welche mir das einzige Mittel schien, sein Leben zu retten. Ich befahl, ihn zu geißeln; dann - ein Wasserbecken verlangend - wusch ich meine Hände in der Gegenwart der Menge. Damit habe ich meine Missbilligung zu dieser Tat bekundet. Aber vergebens, es war sein Leben, nach dem die Blinden dürsteten.

In unseren bürgerlichen Vorkommnissen habe ich oft die Leidenschaftlichkeit der Menge mit angesehen, aber nichts, auch nichts kann mit dem gegenwärtigen Ausbruch verglichen werden. Es möchte wahrhaftig gesagt werden, dass bei dieser Gelegenheit alle Schreckgestalten des Hades in Jerusalem versammelt waren. Der Haufen schien nicht zu gehen, sondern zu schweben und sich zu drehen wie in einem Wirbel, daherrollend wie lebendige Wellen, vom Portal des Prätoriums bis zum Berge Zions rufend, schreiend, brüllend, wie solches nie gehört wurde, selbst nicht in den Aufständen von Panonia noch beim Getümmel in Porum.

Um die sechste Stunde dämmerte es und dunkelte wie um die Winterszeit, wie beim Tode des großen Julius Cäsar. Es war gleich der Finsternis im März. Ich, der Statthalter von einer aufrührerischen Provinz, lehnte gegen eine Säule im Basilik, ängstlich die schreckliche Dunkelheit betrachtend. Diese Teufel von Barbaren hatten den unschuldigen Nazarener zur Hinrichtung geschleppt. Alles um mich her war wie ausgestorben.

Jerusalem hatte seine Bewohner ausgespieen, durch die Pforte des Begräbnisses, welche zur Schädelstätte führte. Eine Luft der Öde und der Traurigkeit umhüllte mich. Meine Leibwache hatte sich den Berittenen und dem Zentorium angeschlossen, nur einen Schatten von Macht entfaltend und Ordnung zu halten bestrebt. Ich war allein gelassen und mein brechendes Herz ermahnte mich, was im gegenwärtigen Augenblick geschah, welcher eher zur Geschichte der Götter gehörte, als zu den Menschen.

Ein lautes Geschrei wurde von Golgotha vernommen, welches getragen vom Winde einen Todeskampf anzukündigen schien, welches sterbliche Ohren nie gehört. Dunkle Wolken ließen sich über der Stadt nieder und verbreiteten sich über die ganze Stadt, alles wie mit einem dunklen Schleier verhüllend. So schrecklich waren die Zeichen am Himmel, auch auf der Erde, dass die Seherin (Aropagitin) soll gerufen haben: "Entweder ist der Schöpfer der Natur leidend oder das Tal fällt zusammen."

Gegen die elfte Stunde der Nacht warf ich meinen Mantel um und ging nach der Stadt hinunter gegen die Pforte Golgotha. Die Menge kehrte heim, immer noch aufgeregt, es ist wahr, aber düster, schweigsam und wie verzweifelt. Das, wovon sie Zeugen gewesen, hat sie mit Schrecken und Gewissensbissen erfüllt. Ich sah auch meine kleine römische Schar trauernd vorüberziehen. Der Standartenträger hatte seinen Adler verhüllt zum Zeichen von Gram und Trauer und ich hörte einige Soldaten sprechen, aus denen ich jedoch nicht klug werden konnte.

Andere wieder erzählten sich Wunderdinge, ähnlich denjenigen, welche die Römer singend machten, durch den Willen der Götter. Gruppen von Männern und Frauen hielten manchmal stille und schauten zurück nach dem Berge Golgolha, in Erwartung, von dort her neue Wunder zu sehen. Ich kehrte zurück nach dem Prätorium, traurig und in mich gekehrt. Die Treppe hinaufsteigend, die noch befleckt war vom Blute des Nazareners, fand ich einen alten Mann in gebückter Stellung und hinter ihm einige Frauen in Tränen. Er warf sich mir zu Füßen und weinte bitterlich.

Es ist mir schmerzlich, einen alten Mann weinen zu sehen. "Vater", fragte ich milde, "Wer bist Du, was ist deine Bitte?" "Ich bin Josef von Arimathäa", sagte er. "und ich bin gekommen, vor Dir auf den Knieen um Erlaubnis zu bitten, Jesus zu begraben." "Deine Bitte ist Dir gewährt", sagte ich ihm und ich befahl gleichzeitig Maultius, einige Soldaten mitzunehmen zur Hilfe des Unternehmens und auch um eine Entweihung des Leichnams zu verhüten. Einige Tage nachher wurde die Gruft leer gefunden und seine Jünger verkündeten im ganzen Lande, Jesus wäre von den Toten auferstanden, wie er es vorher prophezeit hatte.

Am Ende verblieb mir noch die Pflicht, Dir diese beklagenswerten Ereignisse zu übermitteln. Ich tat es während der Nacht, welche auf diese traurigen Ereignisse folgte und beendete gerade den Bericht, als der Tag dämmerte. In dem Moment war es, als ich den Ton von Hörnern vernahm, die Göttin der Nacht (Dianamarsch) spielend. Die Augen nach der Cäsarpforte wendend, sah ich eine Abteilung Soldaten und hörte in einiger Entfernung Cäsars Marsch erklingen. Es war die ersehnte Verstärkung, 2000 erlesene Truppen, welche, um ihre Ankunft zu beschleunigen, die ganze Nacht hindurch unterwegs waren.

Es war beschlossen bei den Göttern, schrie ich, meine Hände ringend, dass die große Ungerechtigkeit geschehen sollte, dass die zum Zwecke der Verhütung der gestrigen Tat angeforderten Truppen erst heute kommen. Grausames Verhängnis, wie spielst du oft mit den Angelegenheiten der Sterblichen! Es war nun wahr, was der Nazarener ausrief, am Kreuze sich windend: Es ist vollbracht!

Pontius Pilatus Statthalter von Judäa.

 

Die Waagschalen

Was meine Großmutter uns aus der Bibel erzählte, das lebte sie uns im täglichen Leben vor. Sie war still, sonnig, immer freundlich und war eine treue Beterin. Ihr ganzes Leben war ein einziges Lieben und Ertragen von unsagbaren Nöten. Sie lebte an der Seite eines Mannes, der gerade das Gegenteil war: Hart, undankbar, ich-süchtig, ein Flucher, der nie zufrieden war. Hatte er seinen „schlimmen" Tag, so mussten wir eilends das Haus verlassen.

Schon unter der Tür klärte sie uns liebend auf und meinte: „Kinderchen, geht schnell, der Nordwind weht! Betet für den Großvater, er geht sonst verloren!" Oft verstanden wir das Großmütterli nicht mehr und sagten: „Wenn er so ist, dann hat er es auch nicht anders verdient!"

Als ich einmal zu ihr sagte: „Großmutter, gib doch dein Beten für den Großvater auf, es hat doch keinen Sinn, er wird ja immer noch schlimmer zu dir", da nahm sie mich an die Hand und führte mich in die Küche. Dort stellte sie eine Küchenwaage auf den Tisch und gab mir folgende Erklärung: „Diese Küchenwaage hat zwei Waagschalen. Nun stell dir einmal vor, Gott habe eine solche Waage für uns bereit. Hier wird alles, was wir tun, gewogen. Und nun denke dir, in der einen Waagschale sitzt dein schwer gebundener, hartherziger Großvater. Er hat mit seinem steinernen Herzen ein ganz beachtliches Gewicht. In der anderen Schale aber liegen die schwachen Gebete deiner Großmutter und die von euch Kindern. Vergleichst du so ein Gebet mit dem Gewicht eines Kalenderzettels, so ist dies, im Vergleich zu dem schweren Großvater, gar nichts! Nimmst du aber einen Jahreskalender mit 365 Zettelchen auf die Hand, dann ist es schon ein wenig schwerer. Und nun denke dir 50 ganze Kalender! Die sind schon gehörig schwer! So lange bete ich jetzt für den Großvater. Ich bin überzeugt, es kann nicht mehr viel fehlen, bis unsere Gebete mehr wiegen als Großvater, und sie werden ihn zum Himmel emporziehen. Wäre es nicht schade, wenn wir jetzt müde würden in unserem Beten? Wenn du täglich treu mitbetest, wird Gott uns erhören."

Und so betete ich noch sieben Jahre mit der Großmutter um die Errettung des Großvaters. Nachdem sie 57 Jahre im Gebet für ihren armen Mann durchgehalten hatte, nahm der Herr Jesus sie zu sich. Sie starb, ohne die Freude der Bekehrung des Großvaters erlebt zu haben.

Erst am Sarge der Großmutter brach der hartherzige Großvater zusammen und übergab sein Leben dem Heiland mit unbeschreiblichen Reuetränen. Gerade ich, die vor sieben Jahren der Großmutter noch den Rat gab, nicht mehr zu beten, durfte mit dem 83 jährigen Greis niederknien und seine Umkehr erleben. Der einst so gefürchtete Tyrann wurde zu einem sanften, liebenden treu betenden Großvater, der jeden seiner Besucher unter Tränen ermahnte, sein Leben dem Herrn zu geben. Das Gewicht der Gebetswaagschalen hatte also den alten Großvater doch noch nach oben gezogen. Und Großmutter darf nun im Himmel dafür danken

CH. Spurgeo

Gebete werden nach dem Gewicht und nicht nach der Länge gemessen.