Die Kirche selbst hat das Signal gesendet, man brauche sie nicht mehr

Stand: 14.07.2021 | Lesedauer: 3 Minuten

 

 An gewaltige Austrittszahlen hat man sich gewöhnt in der Kirche. Die neue Statistik aber ist besonders brutal. Sie zeigt: Selbst in Krisenzeiten wie der Pandemie können immer mehr Menschen gut auf die Kirche verzichten. Der Missbrauchsskandal allein kann das nicht erklären.

 Not lehrt beten, hieß es mal. In diesem Satz schwang immer auch Sarkasmus mit. Er deutete an, dass Beten, dass religiöse Überzeugungen gerne mal starken Schwankungen unterliegen: Läuft es gut, gibt es Wichtigeres als Religion, und läuft es schlecht, werden die Menschen plötzlich devot.

 Wenn es irgendetwas Positives gibt, das die katholische Kirche der eigenen neuen Austrittsstatistik noch abgewinnen kann, dann vielleicht, dass dieser alte Vorwurf des religiösen Opportunismus zumindest in Deutschland nicht mehr sinnvoll erhoben werden kann. Das Coronajahr 2020 war ein schlechtes für viele Menschen. Jobangst, Einkommensverluste, Krankheit, Todesgefahr, Trauer: Not gab es mehr als genug. Aber sie hat die Menschen offensichtlich nicht beten gelehrt. Sonst wären in jenem Jahr nicht 221.390 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, mehr als in jedem anderen Jahr mit Ausnahme von 2019 (272.771).

Zwar ist die zerknirschte Bekanntgabe der jährlichen Austrittszahlen längst traurige Routine geworden, sie gehört zum katholischen Kirchenjahr wie Mariä Himmelfahrt und zum evangelischen wie der Buß- und Bettag. Aber gerade jetzt, in dieser gesamtgesellschaftlichen Krisensituation, ist die Statistik von besonderer Brutalität: Wenn das Christentum nicht einmal in einer Zeit der Pandemie wieder mehr Menschen angeht und existenziell zu berühren vermag, wann denn dann?

 Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), der Limburger Bischof Georg Bätzing, hat sich den Luxus gegönnt, diese Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen. Im Gegenteil: Er hat die Coronalage kurzerhand zum mildernden Umstand in der Misere erklärt. Die neuen Zahlen seien „ein drastisches Spiegelbild dessen, wie sich die Corona-Pandemie auf das Leben in unseren Gemeinden auswirkt“.

 Was Bätzing meint: Die vielfältigen Hygienemaßnahmen und Beschränkungen hätten Taufen, Kommunionfeiern oder Hochzeiten verhindert und somit das kirchliche Leben ausgebremst. Das stimmt zwar und erklärt die entsprechenden rückläufigen Zahlen der jeweiligen Sakramente. Es ist aber keine Begründung für den Exodus als solchen: Wer seine Kinder gerne taufen lassen, wer gerne kirchlich heiraten möchte, kann das ja nach dem Ende der Coronamaßnahmen nachholen. Er tritt deshalb nicht aus der Kirche aus. Dafür muss es andere Gründe geben.

 Die größte Motivation für den Kirchenaustritt bleibt natürlich der Missbrauchsskandal. Doch die Probleme speziell der katholischen Kirche sind damit nicht erschöpft, zumal ein möglicher Woelki-Effekt sich allenfalls in der nächsten Austrittsstatistik zeigen würde; die Aufregung um den Kölner Kardinal nahm erst ab Ende 2020 Fahrt auf. Eine Absatzbewegung solchen Ausmaßes lässt sich vielmehr nur mit einer grundlegenden Glaubenskrise erklären: Entweder die Menschen sind nicht mehr auf der Suche nach christlichem Sinn, oder aber sie suchen schon noch, werden aber in ihrer Kirche nicht mehr fündig.

 Verständlich wäre es: Die katholische Kirche in Deutschland erliegt immer häufiger der Versuchung, es den Protestanten in puncto Ernüchterung nachzutun. Wo Spiritualität und Transzendenz gefragt wären, machen sich weltliche Lebenshilfe und moralische Erbauung breit.

 Wie weit diese Selbstversachlichung schon vorangeschritten ist, war ausgerechnet in der Zeit von Corona zu sehen: Eilfertig und weitgehend klaglos strichen die Bischöfe etwa die öffentlichen Gottesdienste zu Ostern, um der Politik entgegenzukommen. Und auch später, als Gottesdienste unter bestimmten Auflagen wieder erlaubt waren, ließen manche Pfarrer ihre Kirchen weiter geschlossen: all die Hygieneregeln und Umbaumaßnahmen, viel zu viel Aufwand!

Wenn Gottesdienste und Eucharistie den Klerikern selbst nicht mehr viel bedeuten, brauchen sie sich nicht wundern, wenn sie und die ganze Kirche als überflüssig empfunden werden.

 

Die Kirche selbst hat das Signal gesendet, man brauche sie nicht mehr

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